08.09.2024

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Im Gespräch mit Harald Kujat

„Es kommt Bewegung in die politische Lage“

Über jüngste Friedensinitiativen für den Ukrainekrieg, mögliche Entwicklungen nach der US Präsidentenwahl – und die Gefahr, dass sich ausgerechnet jetzt die NATO zu einem Hauptakteur des Krieges entwickelt

René Nehring
18.07.2024

Nähert sich der Ukrainekrieg einem Ende? Zumindest deuten verschiedene Aktivitäten in der jüngsten Zeit darauf hin, dass Bewegung in die verfahrene Lage kommen könnte. Andere Zeichen deuten hingegen darauf hin, dass auch eine weitere Eskalation im Bereich des Möglichen liegt. Zeit für eine Einordnung des Geschehens in einem Schlüsselmoment des Krieges.

Herr Kujat, während von den Fronten des Ukrainekriegs zuletzt wenig zu hören war, gab es auf politischer Ebene einige Schlagzeilen. So gab es die von zahlreichen Medien und Politikern kritisierte Reise des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nach Kiew, Moskau und Peking. Und in Washington trafen sich die NATO-Staaten zu ihrem Gipfel. Fangen wir mit der NATO an: Was hat der Gipfel gebracht?

Schwerpunkt des Gipfels war erwartungsgemäß der Ukrainekrieg und die fortgesetzte finanzielle wie materielle Unterstützung der Ukraine. Die Koordination der Unterstützung, die bislang von den USA geleistet wurde, wird künftig von der NATO übernommen, wozu eine neue Dienststelle des Bündnisses in Wiesbaden eingerichtet werden soll. Es wird ein NATO-Fonds von 40 Milliarden Euro zunächst für das nächste Jahr gebildet, aus dem die Unterstützungsleistungen finanziert werden. Angekündigt wurde zudem die Lieferung weiterer Luftverteidigungssysteme und das baldige Eintreffen der ersten F-16-Kampfflugzeuge. Außerdem stand erneut das Verlangen der Ukraine, NATO-Mitglied zu werden, auf der Tagesordnung.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der verschärfte Ton gegenüber China. Es hieß, China sei durch seine grenzenlose Partnerschaft mit Russland zu einem entscheidenden Faktor für den Krieg Russlands gegen die Ukraine geworden. Dadurch sei die Bedrohung, die Russland für seine Nachbarn und die euro-atlantische Sicherheit darstellt, erhöht worden. Mit der Aussage, der Indo-Pazifik sei für die NATO wichtig, weil die Entwicklungen in dieser Region direkte Auswirkungen auf die euro-atlantische Sicherheit hätten, geht die bislang regionale Nordatlantische Allianz weit über die bisherige Charakterisierung Chinas als „systemischen Gegner“ hinaus auf einen direkten Konfrontationskurs zu China.

Welche Konsequenzen hat die Errichtung der NATO-Dienststelle in Wiesbaden für den Ukrainekrieg?
Die Errichtung dieser NATO-Dienststelle ist ein großer Schritt hin zu einer stärkeren „Europäisierung“ des Ukrainekriegs. Denn mit der Übernahme zusätzlicher Verantwortung für die Ukraine ist auch die Verpflichtung verbunden, im Falle einer drohenden Niederlage des Landes die Hilfen zu erhöhen und die Niederlage abzuwenden.

Interessant ist, dass es in Wiesbaden bereits eine US-Dienststelle mit gleichem Auftrag gibt. Diese soll weiter bestehen bleiben, vermutlich deshalb, weil sie auch Aufgaben wahrnimmt, die von einer NATO-Dienststelle nicht geleistet werden können, etwa die Versorgung der Ukraine mit nachrichtendienstlichen und Aufklärungsinformationen sowie Zieldaten.

Wie schätzen Sie die Situation der NATO rund zweieinhalb Jahre nach Beginn des Ukrainekriegs ein?
Wenn man sich die Entwicklung seit Ausbruch des Krieges ansieht, muss man feststellen, dass sich die NATO immer mehr zu einem Hauptakteur des Geschehens entwickelt. Am Anfang waren es vor allem Russland und die USA, die ihren Konflikt auf dem Boden der Ukraine austrugen. Der Beitrag der Amerikaner geht nun schrittweise auf ihre europäischen Verbündeten über.

Das ist für uns eine komplexe und auch gefährliche Entwicklung. Denn durch die kritische Lage der Ukraine können Situationen entstehen, die eine bedrohliche Eskalation zwischen Russland und den Europäern auslösen.

Vor wenigen Tagen etwa hat die Ukraine mit amerikanischen ATACMS-Raketen Sewastopol angegriffen. Dabei kam es zu Verletzten und Toten. Hierauf hat Russland erstmalig erklärt, dass der Einsatz nicht nur mit einem US-Waffensystem erfolgte, sondern ohne amerikanische Beteiligung für die Ukrainer gar nicht durchführbar gewesen sei. Damit sind die Vereinigten Staaten aus russischer Sicht nicht mehr nur Unterstützer einer gegnerischen Konfliktpartei, sondern selbst Konfliktpartei. In diese Situation kann Europa durch die Verlagerung der Verantwortung für die Ukraine künftig ebenfalls geraten.

Am Rande des NATO-Gipfels wurde auch eine bilaterale Erklärung zwischen den USA und Deutschland veröffentlicht, dass ab 2026 amerikanische Tomahawk-Marschflugkörper und später – derzeit noch in der Entwicklung befindliche – Überschallwaffen in Deutschland stationiert werden sollen.

Das ist ein weiteres Beispiel für die voranschreitende Eskalation. Natürlich waren, worauf westliche Politiker hinwiesen, bisher schon russische Iskander-Raketen in der Nähe von Königsberg und somit in der Nähe von NATO-Staaten stationiert. Allerdings haben Raketen eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern, die „Tomahawks“ hingegen von bis zu 2500 Kilometern. Sie gehören demnach zum Reichweitenspektrum des von den USA gekündigten INF-Vertrages. Sie sollen zwar konventionell eingesetzt werden, aber es muss geklärt werden, ob diese Marschflugkörper auch mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden können. Eine ältere bodengestützte Variante mit einem nuklearen Gefechtskopf (BGM-109G Gryphon) wurde ab 1983 im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses in Deutschland und vier weiteren europäischen Staaten stationiert. Übrigens werden auch SM-Raketen und später noch in der Entwicklung befindliche Hyperschall-Marschflugkörper in Deutschland stationiert.

Russland hat den direkten Zusammenhang mit dem INF-Vertrag betont. Die amerikanische Entscheidung sei erwartet worden und Russland bereite bereits seit einiger Zeit „kompensierende Gegenmaßnahmen“ vor.

Wie steht es eigentlich um eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine?
In dieser Hinsicht sind beim NATO-Gipfel zwei Formulierungen gefallen: zum einen, dass der Weg zur NATO-Mitgliedschaft der Ukraine unumkehrbar sei. Zum anderen, dass die aktuellen Unterstützungsmaßnahmen eine Brücke bilden hin zu einer späteren NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Das ist tatsächlich eine neue Qualität und soll den bisherigen Weg „Trump-sicher“ machen, was allerdings naiv ist.

Zugleich wurde jedoch richtigerweise betont, die NATO werde dann in der Lage sein, eine Einladung auszusprechen, wenn alle Alliierten zustimmen. Da bekannt ist, dass einige NATO-Staaten – auch die USA – nicht bereit sind, die Ukraine zur Mitgliedschaft einzuladen, bleibt die Eröffnung des formalen Beitrittsprozesses weiter ungewiss.

Zu den politischen Ereignissen der letzten Tage gehörte auch die eingangs erwähnte Orbán-Reise. Obwohl die Mission vorab mit der NATO abgestimmt war, prasselte dafür heftige Kritik auf den Ungarn nieder. Wie bewerten Sie diese Initiative?
Orbáns Reise zeigt, dass Bewegung in die politische Lage des Ukrainekriegs kommt. Ich finde sowohl den Zeitpunkt als auch die Herangehensweise des Premierministers hervorragend. Während die NATO neue Waffenlieferungen an die Ukraine ankündigt, zeigt Orbán, dass es auch anders geht. Zudem folgt seine Reise praktisch unmittelbar auf Putins jüngste Vorschläge für eine Verhandlungslösung.

Richtig war es zudem, nicht nur mit der Ukraine und Russland, sondern auch mit China zu sprechen. Denn die Chinesen sind nicht nur eine relevante Großmacht, sondern sie haben auch den einzig realistischen Vorschlag für einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen unterbreitet. Wichtig ist zudem, dass Orbán nach der Gipfelkonferenz auch mit Trump gesprochen hat. Orbán schrieb danach: „Wir haben über Wege gesprochen, Frieden zu schließen. Die gute Nachricht des Tages: Er wird es lösen.“

Nicht zuletzt zeigt Orbáns Reise, dass die Europäer durchaus handlungsfähig sein könnten, wenn sie es denn wollten. Dass man sich in Brüssel durch die ungarische Initiative in der eigenen Untätigkeit ertappt fühlt, kann ich gut verstehen. Umso interessanter, dass Orbán in Europa auch Zustimmung erfahren hat, etwa vom slowakischen Ministerpräsidenten und zuvor schon vom tschechischen Präsidenten.

Wie steht es um die direkten Gespräche zwischen Russland und den USA? Ende Juni berichteten russische Medien von einem Telefonat zwischen dem US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und seinem russischen Kollegen Andrej Bjeloussow.

Ob es einen regelmäßigen Austausch zwischen beiden Seiten gibt, weiß ich nicht. Das Telefonat im Juni war eine Folge des ukrainischen Angriffs auf Sewastopol und des russischen Vorwurfs, dass dieser Angriff nur mit US-amerikanischer Unterstützung möglich gewesen ist.

Generell sind gemeinsame Telefonate ein positives Zeichen. Sie zeigen nicht nur, dass beide Seiten im Gespräch sind, sondern auch, dass die beiden Großmächte nach wie vor bemüht sind, eine direkte Konfrontation zu vermeiden.

Wie eingangs gesagt, ist es in den Medien um das Kampfgeschehen zuletzt eher ruhig gewesen. Wie sieht es auf den Schlachtfeldern derzeit aus?
Die russischen Streitkräfte besitzen die Initiative und haben an mehreren Angriffsschwerpunkten ukrainisches Gebiet erobert. Sie beabsichtigen jedoch offenbar nicht, einen großen Durchbruch zu erzielen, sondern zeigen, dass sie in der Lage sind, an mehreren Stellen der Front vorzurücken und ihre Geländegewinne auszubauen.

Dabei arbeiten sie sich auf strategische Punkte wie beispielsweise Tschassiw Jar vor. Von dort aus wären sie in der Lage, die ukrainischen Versorgungslinien zu bedrohen. Offenbar wollen sie die bisherigen Eroberungen der vier annektierten Regionen Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson konsolidieren. Das stimmt mit den von Putin genannten Konditionen für eine Friedensregelung überein.

Rechnen Sie angesichts der hier skizzierten Gemengelage mit einem baldigen Ende des Krieges oder doch eher damit, dass sich das Kampfgeschehen noch eine Weile hinziehen wird?
Ich sehe im Grunde drei Möglichkeiten. Die erste ist, dass sich der Krieg noch eine Weile hinzieht, obwohl auf beiden Seiten eine Kriegsmüdigkeit feststellbar ist. Die zweite Möglichkeit ist, dass es doch zu einer militärischen Niederlage der Ukraine kommt, weil die westlichen Waffenlieferungen am Ende nicht ausreichen. Und die dritte Option ist, dass es schon bald zu Verhandlungen kommt und damit der Weg für eine Beendigung des Krieges frei wird.

Spannend wird es, wenn Donald Trump am 9. November zum nächsten US-Präsidenten gewählt werden sollte – was nach dem bisherigen Wahlkampf Joe Bidens und auch durch den Schub, den Trump durch das Attentat auf ihn am vergangenen Wochenende erfahren dürfte – zunehmend realistisch wird. Trump könnte unter anderem die Ukraine zwingen, die bisherige Ablehnung von Verhandlungen aufzugeben und die Haltung gegenüber einem Deal mit Putin zu ändern, indem er die weitere Unterstützung an die Bedingung knüpft, dass Selenskyj sich verhandlungsbereit zeigt. Dann könnte es tatsächlich zu einem schnellen Ende des Krieges kommen. Trump hatte nach seinem Gespräch mit Orbán verkündet: „Danke Viktor. Es muss Frieden geben, und zwar schnell.“

Das Allerschlimmste für uns Europäer wäre allerdings, wenn die Amerikaner aus ihrer bisherigen Unterstützerrolle aussteigen würden und wir so unvernünftig wären, auf eigene Faust die Ukraine weiter zu unterstützen. Dann würden wir den Ukrainekrieg endgültig zu unserem machen.

Das Gespräch führte René Nehring.

General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.


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