Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Die deutschen Heimatvertriebenen gaben sich vor 75 Jahren ein „Charta“ genanntes Grundgesetz. Darin verzichteten sie auf Gewalt, Rache und Vergeltung, aber nicht auf das Menschenrecht auf Heimat
Am 5. August 1950 gaben sich die „erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebenen“ aus den deutschen Staats- und Siedlungsgebieten im östlichen Europa zu Stuttgart eine „Charta“. Anlass war der fünfte Jahrestag der Potsdamer Konferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Dort hatten wenige Monate nach der Kapitulation der NS-Diktatur die führenden Politiker der UdSSR, der USA und Großbritanniens im Artikel XIII eines „Protokolls“ (vom 2. August 1945) die Vertreibung besiegelt und zugleich versucht, dem Vorgang auch noch einen regelbasierten Anschein zu geben. „Ordentlich und human“, wie angekündigt, konnte der Exodus der Deutschen aus dem Osten aber schon wegen seines beispiellosen Umfangs nicht ablaufen. In erster Linie hatte ihn Josef Stalin in Gestalt der „Westverschiebung“ Polens durchgesetzt, um auf den Trümmern von Adolf Hitlers Vernichtungskrieg gegen mehrere östliche Nachbarvölker das (sowjet-)russische Imperium noch weiter auszudehnen.
Bezieht man in die Bundesarchiv-Zahlen von 1974 die Russlanddeutschen mit ein, hatten im Kontext von Flucht und Vertreibung etwa eine Dreiviertelmillion Menschen allein im Zuge von Gewaltverbrechen ihr Leben verloren. Dennoch stellten die Verfasser der Stuttgarter Charta den Verzicht auf Rache und Vergeltung gleich an den Anfang ihrer prägnanten Botschaft. Hinzu kam das Ziel eines geeinten Europas und die Beteiligung am Wiederaufbau Deutschlands und des Abendlandes. Als weiterer Kernpunkt folgten Sätze, die vor allem eines verdeutlichen: Die Mitarbeit an diesem Wiederaufbau sollte zumindest mittel- oder längerfristig am besten nach Rückkehr in die angestammte Heimat, also von dort aus erfolgen. Das „Recht auf die Heimat“ müsse als „eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht“ werden.
„Logos“ des Gesamtdokuments
Im Unterschied aber zum Ostgrenzen-Revisionismus nach den Gebietsverlusten von 1919 wurde Gewalt aufgrund der Erfahrungen der NS-Zeit als Mittel der Politik nunmehr ausdrücklich ausgeschlossen. Hierin liegt der für den weiteren Gang der Vertriebenenpolitik in der Bundesrepublik über die folgenden Jahrzehnte entscheidende, aus den Kernpunkten der Charta folgende „Logos“ des Gesamtdokuments: Die Spirale nationalistischer Gewalt, die von einem schrecklichen Ersten zu einem noch schrecklicheren Zweiten Weltkrieg geführt hatte, durfte sich nicht fortsetzen.
Um die Bedeutung dieses politischen Bekenntnisses nachvollziehen zu können, muss man sich seinen historischen Kontext immer wieder vergegenwärtigen. Die wirtschaftlich-soziale Lage der bald acht Millionen in den westlichen Zonen gestrandeten Ostvertriebenen war nach wie vor prekär. Von ihnen hauste die Hälfte in Lagern und waren 40 Prozent arbeitslos. „Die Verzweiflung der Vertriebenen“, so kommentierte es eine Schweizer Zeitung, sei gepaart mit einer aus Hoffnungslosigkeit geborenen Apathie.
Wie lange diese anhalten würde, schien allerdings fraglich. Das jahrelang über die Vertriebenen verhängte „Koalitionsverbot“ war erst Anfang 1950 ganz aufgehoben worden. Sofort hatte sich daraufhin der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) gegründet und war bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein im Juli 1950 aus dem Stand auf 23,4 Prozent der Stimmen gekommen. Wenige Monate vorher war ein Entwurf der ersten Bundesregierung für ein Lastenausgleichsgesetz hinter höher gesteckten Erwartungen zurückgeblieben.
Sämtliche Zutaten für eine politische Radikalisierung der Vertriebenen standen im Sommer 1950 mithin bereit. Umso mehr als sich noch vor dem BHE im vorpolitischen Raum gleich zwei organisatorische Repräsentanten der Vertriebeneninteressen gebildet hatten, die bald heftig um die Führungsrolle rangen: Der Zentralverband vertriebener Deutscher (ZvD), der fast gewerkschaftsähnlich vor allem die sozialpolitischen Anliegen betonte, und die Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL), denen heimat- und ostpolitische Ziele wichtiger waren.
Die Stuttgarter Charta gehört mitten hinein in die frühe Geschichte dieser Konkurrenzbeziehung. Sie war auch ein Versuch beider Strömungen, in Grundsatzfragen der Vertriebenenpolitik einen gemeinsamen Nenner zu finden. Die Charta wandte sich also nicht nur nach außen an die Adresse der westdeutschen Altbevölkerung und der Weltöffentlichkeit, sondern auch nach innen, als Beitrag zur Befriedung des Verhältnisses beider Bruderverbände. Bei der Charta-Verabschiedung ergriffen führende Vertreter sowohl des ZvD wie der VOL das Wort.
Auf der folgenden Großkundgebung vor den Ruinen des Stuttgarter Schlosses war auch die CDU-geführte Bundesregierung mit Vizekanzler Franz Blücher (FDP) und Vertriebenenminister Hans Lukaschek (CDU) hochrangig vertreten, was diesem Akt einen gleichsam offiziösen Charakter verlieh. Später haben sich Bundeskanzler und -minister ebenso wie Ministerpräsidenten unterschiedlicher politischer Farbe immer wieder positiv auf die Stuttgarter Charta bezogen. Daneben bildete sich aber seit Ende der 1980er Jahre auch eine äußerst kritische Sicht auf das Dokument heraus.
Ralph Giordano warf ihm 1987 vor, die nationalsozialistische Vorgeschichte der Vertreibung verschwiegen zu haben. Der Publizist erklärte die Heftigkeit seines Angriffs selbst damit, dass er den Bund der Vertriebenen wie eh und je auf den Irrwegen von Revisionismus und Revanchismus wandeln sah. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die in der Zeit vor dem Beitritt der DDR-Länder zur Bundesrepublik staatsrechtlich nach wie vor von einem Deutschland in den Grenzen von 1937 ausging, ignorierte der Schriftsteller dabei ebenso wie die grenzüberschreitende Versöhnungsarbeit gerade auch vieler Ostvertriebener.
Kritik seit Ende der 1980er Jahre
Kritik kam aber seitdem immer wieder einmal hoch, zum Beispiel 2011, als linke Zeithistoriker eine Charta-freundliche Erklärung der schwarz-gelben Regierungsparteien im Bundestag attackierten. Einer ihrer Hauptvorwürfe lautete: Ein Drittel der Erstunterzeichner hätten der NSDAP angehört, einige sich auch noch tiefer in das Unrechtssystem verstrickt. Gegen diese Argumentation erhob sich aber auch Widerspruch. Mitarbeiter mit NS-Vergangenheit seien doch in nahezu allen Institutionen der frühen Bundesrepublik, ja sogar in dezidiert progressiv auftretenden Medien wie dem „Spiegel“ zu finden gewesen.
Tatsächlich stellt sich die Frage, wie man einen mehr oder weniger höheren Prozentanteil von „Ehemaligen“ in den ersten Reihen der Vertriebenenverbände zu bewerten hat. Bekanntlich war in den Heimatgebieten der Grenz- und Auslandsdeutschen nach den aufgezwungenen Pariser Friedensverträgen von 1919 auch die Instrumentalisierbarkeit des Nationalbewusstseins überdurchschnittlich hoch gewesen. Andererseits ist zu sehen, dass gerade einige der prominentesten Charta-Unterzeichner beachtliche „Resistenz“ gegenüber dem NS-Regime gezeigt hatten, man denke nur an den überzeugten ostpreußischen Katholiken, ZvD-Vorsitzenden und CDU-Bundestagsabgeordneten Linus Kather. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob die Zustimmung zu einem Dokument wie der Charta nicht auch bei früheren „Parteigenossen“, soweit sie nicht an Gewalttaten beteiligt gewesen waren, im Sinne politischer Läuterung und Resozialisierung positiv gedeutet werden sollte.
Aus heutiger Sicht wirkt es befremdlich, wenn Überlebende sich in der Charta angesichts von Millionen Toten in den NS-Vernichtungslagern als die „vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“ zeichneten. Doch die Überzeugung, selbst vor allem Opfer geworden zu sein, war damals alles andere als eine Besonderheit der Deutschen aus dem Osten. Die Konkurrenz mit anderen Opfergruppen innerhalb der Bundesrepublik von den Ausgebombten bis zu den „Besatzungsgeschädigten“ auch im Blick auf den bevorstehenden Lastenausgleich war enorm. Obendrein waren die Schrecken der NS-Zeit Anfang der 1950er Jahre wohl noch zu nah, um sich so intensiv und kritisch damit auseinandersetzen zu können wie heute. Deshalb sollte der Schlusssatz der Charta, wo eben nicht nur von „Unglück“ und „Leid“, sondern ebenso schon von „Schuld“ die Rede ist, nicht einfach übersehen werden.
Der entscheidende Punkt der Charta ist und bleibt der Gewaltverzicht in einem neuen europäischen Geist. In der Folge konnte sich im In- und Ausland von den stets demokratisch orientierten Vertriebenenorganisationen eigentlich nur noch bedroht fühlen, wer sich aus ideologischen Motiven auch partout bedroht fühlen wollte. Selbst in der Hitze der Ostvertragsdebatten Anfang der 1970er Jahre haben die Vertriebenen, anders als kurz zuvor noch Pflastersteine werfende „68er“, die Schwelle zur Gewalt nie auch nur ansatzweise überschritten.
Bedeutung für die Gegenwart
Kaum je in der Weltgeschichte ist ein Gebietsverlust noch dazu dieser Größenordnung friedlicher und demokratischer bewältigt worden als der des deutschen Ostens durch die Bundesrepublik nach 1949. Dabei zeigte schon der Blick auf die verfeindeten Nachfolgestaaten Britisch-Indiens oder die palästinensischen Terroristen bis heute, welche Richtungen ein ungelöstes Flüchtlingsproblem eben auch nehmen kann, wenn es an der Bereitschaft zum Gewaltverzicht mangelt.
Aber was war mit der Kernforderung der Charta? Dem Recht, nach einer „ethnischen Säuberung“ wieder in die Heimat zurückkehren zu können, das „natürlich ohne neue Vertreibung [...] für jeden und für alle [gilt]: für Palästinenser, Israelis, Ukrainer – und auch für Deutsche“ (Reinhard Müller). Im Falle der Vertreibung der Deutschen erwies sich dieses Ziel nach dem allzu späten Ende des Kalten Krieges 1990 als nicht mehr erreichbar. Das ist und bleibt eine der großen Narben in der Geschichte des Völkerrechts. Denn schon die Haager Landkriegsordnung von 1907 hatte die Kollektivbestrafung ganzer Bevölkerungsgruppen klipp und klar verboten. Doch der Einsatz für ein Menschenrecht auf die Heimat im Geiste der Stuttgarter Charta war langfristig nicht völlig vergebens: Mit Hilfe der USA konnte in Dayton am Ende des Bosnien-Krieges 1995 die Rückkehr von Vertriebenen erstmals vertraglich verankert werden. Viel zu viele „ethnische Säuberungen“ danach, jüngst die Berg-Karabachs von den Armeniern, zeigen aber auch, wie notwendig es ist, für die Werte der Charta weiter zu kämpfen.