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Der Wochenrückblick

Gedenken nach Bündnislage

Wie die sowjetische Rolle 1939 wieder aktuell wurde, und wie die Autobahn wieder „Nazi“ wird

Hans Heckel
20.05.2023

Der Satz lässt aufhorchen, auch wenn er eigentlich eine Binse ist. Abgestoßen von Putins Siegesparade zum 9. Mai schreibt Ulrich Reitz im „Focus“: „Fast in Vergessenheit ist auch geraten, dass nicht die Deutschen allein den Zweiten Weltkrieg entfesselten, sondern: Deutsche und Sowjets gemeinsam.“ Nun ist das für den Geschichtsbewussten keine Neuigkeit. Im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt hatten Berlin und Moskau den polnischen Nachbarn bereits am 23. August 1939 unter sich aufgeteilt. Dass Stalins Truppen nicht schon am 1., sondern erst am 17. September aktiv angriffen, ist für die Frage, wer beim „Entfesseln“ dabei war, bedeutungslos. Die Antwort darauf haben wir mit Datum vom 23. des Vormonats schriftlich.

Soweit war eigentlich immer alles klar, dennoch schluckt man ein wenig. Das hat mit den feineren Schwingungen zu tun, die unser Gedenken durchziehen. Die drücken sich oft darin aus, welche Ereignisse jeweils in den Mittelpunkt gestellt wird und was man eher unerwähnt am Wegesrand liegenlässt.

Unser Blick auf die Geschichte hat seit 1945 einige heftige Wendungen genommen. In der ganz jungen Bundesrepublik wurden beispielsweise die Vertreibungsverbrechen minutiös dokumentiert und nahmen einen breiten Raum in der Erinnerungskultur ein. Ganz anders in der DDR: Dort war das Sprechen von Verbrechen im Osten tabu, sogar das Wort „Vertriebener“ sollte nicht benutzt werden. Dafür widmete man sich östlich der Werra mit Hingabe den alliierten Luftangriffen auf die deutsche Zivilbevölkerung – namentlich dem auf Dresden vom Februar 1945.

Als sich in Bonn dann die Zeichen in Richtung „Entspannungspolitik“ wendeten, standen die Heimatvertriebenen mit der Geschichte ihres Leids plötzlich als Störenfriede im Raum. So wurden sie zu ihrer nicht geringen Überraschung von Opfern zu Übeltätern gestempelt und bekamen zum Schluss sogar in Westdeutschland von besonders eifrigen Hetzern das von der SED entworfene Etikett des „Revanchisten“ umgehängt.

Als der Eiserne Vorhang gefallen war, erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Nun wollte man von nichtdeutschen Verbrechen oder Verantwortlichkeiten im Grunde gar nicht mehr reden. Wer es trotzdem noch wagte, sah sich schnell dem Verdacht der „Relativierung“ ausgesetzt, von dem es zur Verdammung als „Leugner“ nicht weit war. Vertriebene etwa, die sich weigerten, ihre Erfahrungen des Jahres 1945 pauschal als „Befreiung“ einzustufen, hatten was auszuhalten.

Dann wiederum mischten sich, zur nicht geringen Irritation bundesdeutscher Gedenkoffizieller, mehr und mehr die Ostmitteleuropäer in die Debatte ein. Die hatten nämlich nicht vergessen, dass ihre Befreiung von der deutschen Besatzung überging in die Zwangseinweisung in den sowjetkommunistischen Völkerknast.

2019, als die Beziehungen zu Russland bereits stark auf dem absteigenden Ast heruntergerutscht waren, einigte sich das EU-Parlament auf eine Entschließung zum 80. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs – und zwar mit Datum vom 17. September. Ein deutlicher Fingerzeig, den man in der deutschen Debatte allerdings nicht so recht zum Thema machen wollte.

Es hilft nichts: Man kann sich des dumpfen Gefühls nicht entziehen, dass wir seit Jahrzehnten so eine Art „Gedenken nach Bündnislage“ praktizieren. Der Schriftsteller Martin Walser hat sich sehr unbeliebt gemacht, als er vor 25 Jahren in seiner Paulskirchenrede den „Missbrauch der Geschichte zu aktuellen Zwecken“ geißelte.

Aufs Hühnerauge getreten
Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, bezeichnete ihn daraufhin als geistigen Brandstifter. Das nahm Bubis später zwar ausdrücklich zurück, doch das nützte Walser ziemlich wenig. So ist das mit den deutschen Moralgerichten: Selbst wenn der Beschuldigte auch noch so feierlich freigesprochen wird, verbleibt er doch in den Ketten seiner vermeintlichen Schuld. Der mittlerweile 96-jährige Walser läuft seit der Rede mit dem Verdikt herum, „umstritten“ zu sein.

Von „Missbrauch“ wollen wir hier nicht reden. Müssen wir auch nicht, denn allein der Anschein des konjunkturell schwankenden „Gebrauchs“ von Geschichte steht schon quer genug zum hohen moralischen Anspruch, mit dem die jeweils aktuelle Sicht auf die Vergangenheit eingefordert wird – nebst heftigster Verurteilung der kleinsten Abweichung. Wer diesen Gebrauch aufdeckt, wie Walser es getan hat, der tritt auf ein Hühnerauge und wird das zornige Wehgeschrei der Getretenen seinen Lebtag nicht los.

Wie weit jener Gebrauch gehen kann, demonstriert uns ein deutscher Soziologe, der herausgefunden hat, dass Hitler die Autobahnen „nicht zufällig zu Staatsprojekten ersten Ranges“ gemacht habe und der damit den Bogen spannt vom NS-Terror zur heutigen Debatte um den automobilen Individualverkehr. Damit greift der erste Klimakämpfer nach den Waffen der Gedenkkultur. Es wird nicht lange dauern, bis sich die Gegner eines generellen Tempolimits auf unseren Autobahnen mit bräunlichen Anschwärzungen konfrontiert sehen, wetten?

Es ist schließlich nicht abzustreiten, dass in der Klimadebatte dringend und drastisch aufgerüstet werden muss. Nachdem die Grünen in Bremen derart eins übergezogen bekamen und auch in bundesweiten Umfragen zu Tal rauschen, präsentiert nun ausgerechnet der FDP-Energie-Experte Michael Kruse eine Berechnung, nach welcher Habecks Heizhammer die Deutschen nicht etwa „nur“ 130 Milliarden Euro kosten werde, wie der Klimaminister behauptet, sondern 2,5 Billionen – das Zwanzigfache! Nach der enttäuschenden Erfahrung mit Jürgen Trittins Eiskugel-Märchen dürfte der aufmerksame Zuschauer eher geneigt sein, dem Liberalen zu glauben als dem Grünen.

Derweil geben sich pflichtbewusste Medien zwar alle Mühe, die frohe Botschaft zu verbreiten, dass die Stromversorgung auch im kommenden Winter sicher sei. Gleichzeitig aber wird es laut (grün geführter) Bundesnetzagentur ab Januar 2024 erlaubt sein, Ladestationen von E-Autos oder Wärmepumpen den Saft runterzudrehen, falls es zu Versorgungsengpässen komme. Die Autos können dann nur noch soweit geladen werden, dass das Akku 50 Kilometer schafft. Der ländliche Raum wird aufheulen von Erleichterung. Aber wozu die Möglichkeit zur zentralen Rationierung, wenn bei der Versorgungssicherheit alles in Butter sein soll?

Das ist die Frage, die man besser nicht stellt. Dessen ungeachtet soll es im Sauseschritt weitergehen mit dem Umstieg auf elektrische Autos und Heizungen. Wo der zusätzliche Strom dafür herkommt? Außer steilen Sprüchen hört man wenig. Laut der Beratungsfirma McKinsey wird die Nachfrage nach Strom das Angebot schon in sehr naher Zukunft spürbar übersteigen. Es wird harter Propaganda bedürfen, um die Betroffenen von den Folgen abzulenken. Das mit der Autobahn ist schon mal ein guter Anfang.


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Kommentare

Kersti Wolnow am 20.05.23, 09:49 Uhr

Man muß sich heute doch einmal fragen, was das für ein System ist, das die Wissenschaft sich untertan macht. Besonders deutlich wurde das am Keimling. Und dann schaue man auf die Protagonisten in Politik und Medien, die den Kurs vorgeben. Eigentlich müßten alle Bürger vor dem Reichstag stehen und lautstark einen Wechsel fordern. Mit denen da drin, kann es keinen Fortschritt geben. Man sieht es an den Erfindungen, multifunktional, klein/groß, flach und das wars. Aber auch die Vergangenheit wird dilletantisch zurechtgezerrt. Wie absurd ist diese Zeit!!!! Geradezu ein Irrenhaus.

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