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Im Gespräch mit Opfervertreterin Astrid Passin

„Geschichte, die nicht vergeht ...“

Über die Sicht der Überlebenden und Hinterbliebenen des Anschlags vom Breitscheidplatz, das angemessene Gedenken an eine schreckliche Tat – und die Verpflichtung des Staates, dauerhaft für die Opfer zu sorgen

René Nehring
17.12.2021

Wie bei vielen Verbrechen liegt auch beim Terroranschlag vom Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 der Fokus der Öffentlichkeit auf der Tat und dem Täter. Die Perspektive der Opfer und Hinterbliebenen findet hingegen wenig bis gar keine Beachtung. Dagegen kämpft Astrid Passin als Sprecherin der Hinterbliebenen und Betroffenen vom 19. Dezember 2016.

Frau Passin, warum haben Sie sich mit anderen Hinterbliebenen des Terroranschlags vom Breitscheidplatz in einer Opferinitiative zusammengeschlossen?
Wir haben unsere Gruppe am 24. Dezember 2016 ins Leben gerufen. Es ist eine Organisation in Planung, weil es bis dato in Deutschland keine Vertretung ausschließlich für Opfer von Terrorismus gibt. Zwar kümmert sich seit einigen Jahren der Weiße Ring um diesen Bereich, aber es gibt keine Organisation, die sich ausschließlich um Terroropfer und deren Interessen bemüht, obwohl es mittlerweile sehr viele deutsche Staatsbürger gibt, die entweder in Deutschland oder im Ausland Opfer von Terror wurden. Sie alle haben keine Stimme in der Gesellschaft und auch keinen Ansprechpartner, an den sie sich wenden können. Natürlich ist auch die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sowie die Durchsetzbarkeit der Anliegen gegenüber der Politik in einer gemeinsamen Initiative größer als wenn jeder für sich kämpfen würde.

Für wie viele Menschen spricht Ihre Opferinitiative? Der Kreis der Betroffenen geht ja weit über die Zahl der zwölf Ermordeten hinaus.
In der Tat. Allein der Kreis um einen einzelnen Betroffenen kann mit den Angehörigen ersten und zweiten Grades sowie engen Freunden schnell bei 15 bis 20 Personen liegen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass zu den Opfern des Anschlags vom 19. Dezember 2016 nicht nur die zwölf Ermordeten gehören, sondern auch die Dutzenden Verletzten – viele davon sehr schwer, erst im Oktober dieses Jahres ist ein Ersthelfer an den Folgen seiner damaligen Verletzungen gestorben –, die von den Ereignissen bis heute traumatisiert sind. Auch die zivilen Helfer, die Rettungskräfte der Feuerwehr, die Sanitäter und die Polizisten, die vor Ort im Einsatz waren, und viele Zeugen haben mit der Verarbeitung des Erlebten zu kämpfen.
Zusammen mit ihren jeweiligen Angehörigen kommt man auf einige hundert Menschen, deren Leben vor fünf Jahren einen prägenden Einschnitt erfahren hat.

Viele Opfer von Verbrechen beklagen, dass in der Berichterstattung der Medien, aber auch in der Wahrnehmung der Menschen im Lande fast immer die Taten und die Täter im Vordergrund stehen, während die Opferperspektive viel zu kurz kommt. Wie geht es Ihnen in dieser Frage?
Ich sehe das genauso. Es ist für viele Überlebende und Angehörige retraumatisierend, wenn sie immer wieder aufs Neue mit einem Täter in Verbindung gebracht werden, wenn sie – wie beim Breitscheidplatz – in den Medien Jahr für Jahr die Bilder des Tatorts oder das Konterfei des Terroristen sehen und ertragen müssen. Es ist eine Geschichte, die nicht vergeht ...
In Neuseeland und auch in Norwegen gibt es in dieser Hinsicht gute Ansätze. Dort wird versucht, die Attentäter von Christchurch und Utøya weitestmöglich auszublenden, ihre Motive wenn möglich nicht in der Öffentlichkeit zu erwähnen, damit sie sich im Nachgang zu ihren Verbrechen nicht auch noch in dem Glauben bestätigt fühlen können, das erreicht zu haben, was sie wollten.

Andererseits würde es den Opfern auch nicht gerecht, wenn eine zu starke Zurückhaltung dazu führen würde, dass über die Taten, deren Hintergründe und Umstände kaum noch deutlich gesprochen würde. Wie stellen Sie sich eine angemessene Balance vor aus Berichterstattung in der Sache, zu der auch die Benennung der Täter gehört, sowie einer Erinnerung, die auf die Befindlichkeiten der Opfer Rücksicht nimmt?
Ich denke, dass eine solche Balance am besten herzustellen ist, wenn wir den verschiedenen Ansätzen der Aufarbeitung einen jeweils eigenen Raum geben. Hilfreich für die Betroffenen wäre zum Beispiel, wenn der Staat einen Ort schaffen würde, der das Attentat aus der Perspektive der Opfer aufarbeitet. Ein Ort, an dem die Betroffenen wissen: „Hier wird unsere Geschichte dokumentiert.“ Ein Ort, der ihnen zeigt, dass sie mit ihrem Schicksal nicht allein sind. In Spanien wurde zum Beispiel im Juni 2021 ein nationales Gedenkzentrum für Terroropfer eröffnet.
Wenn es um die politische Aufarbeitung geht, stehen die Täter natürlich im Fokus. Natürlich hat auch die Öffentlichkeit ein Recht darauf, sich an in ihrer Mitte verübte Anschläge und die damit verbundenen Bilder zu erinnern. Allerdings stellt sich die Frage, ob Untersuchungsausschüsse den Namen des Täters tragen müssen, oder ob die Namen der Täter permanent in den Medien genannt werden und deren Konterfeis abgebildet werden müssen. Während die Ermordeten niemals wiederkehren, leben die Mörder dadurch im übertragenen Sinne ständig weiter.

Wie finden Sie generell den Umgang der Behörden mit Ihnen als Opfern?
Das war anfänglich eine Katastrophe, allerdings haben sich viele Dinge zum Positiven verändert. So haben der Notfallseelsorgerverband, aber auch Polizei und Feuerwehr ihre Konzepte zum Umgang mit Opfern überarbeitet. Da gibt es unzählige Beispiele, wo man leider erst im Zuge des Terroranschlags vom Breitscheidplatz begriffen hat, dass man diese Perspektive einfach berücksichtigen muss –und zwar nicht nur im Interesse der Betroffenen, sondern auch des Staates.
Denn mit der Zahl der unbewältigten Fälle steigen auch die gesellschaftlichen Folgekosten des Terrorismus. Jeder Patient mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung muss – oft jahrelang – durch die sozialen Sicherungssysteme getragen werden. Allerdings hat man nun wieder das Gefühl, dass die zur Schau gestellte Fürsorge der Versorgungsämter vor allem eine Vermeidungsstrategie ist, um die Folgekosten von Anschlägen möglichst niedrig zu halten.

Was erwarten Sie sich an Unterstützung durch den Staat jenseits finanzieller Aufwendungen?
Das Wichtigste wäre eine bessere Betreuung. Niemand weiß doch vorher, was es bedeutet, Opfer eines Terroranschlags zu sein. Niemand weiß, wohin er sich wenden kann, welche Rechte er hat und welche Entschädigungsansprüche. Und wenn man da niemanden hat, der einen navigiert und der einen auch über lange Zeit begleitet, fallen viele Betroffene in ein Loch, aus dem sie nur schwer wieder herauskommen. Ich kenne einige, die keine Hilfe erfahren haben und bis heute noch durchhängen, die isoliert sind und keinen Kontakt mehr zur Öffentlichkeit haben. Und das ohne eigenes Verschulden.

Kennen Sie durch den Austausch mit Opfervertretungen im Ausland Beispiele, bei denen der Staat den Umgang mit Betroffenen besser organisiert hat?
Durchaus. Zu den Opfern des Anschlags vom Breitscheidplatz gehört unter anderem eine israelische Familie. Die wird – sicherlich auch vor dem Hintergrund, dass Israel eine viel längere Erfahrung mit Terrorismus hat – von ihrem Staat weitaus besser betreut und aufgefangen. Die Betroffenen und ihre Familien dort werden von staatlichen Stellen begleitet und unterstützt. Da kann man gut einiges auch in Deutschland übernehmen. Die bestehenden Strukturen greifen automatisch. Der Aufwand für den Staat ist dabei gering, die Hilfe für die Betroffenen ist jedoch enorm und von unschätzbarem Wert.

Wie wichtig ist die Aufklärung einer Tat und deren Hintergründe für die Überlebenden und Hinterbliebenen?
Ganz entscheidend! Die vollständige Aufklärung eines Verbrechens – das ist mir erst im Laufe der Zeit richtig bewusst geworden – ist vor allem für die Hinterbliebenen ungemein wichtig, um irgendwann mit den Ereignissen abschließen zu können. Jeder Angehörige will wissen, wie es zu einem Anschlag kommen konnte, warum er einen geliebten Menschen verloren hat.
Leider haben wir beobachten müssen, dass es Bereiche gibt, wo der Staat keinen restlosen Aufklärungswillen zeigt und wo selbst die politische Kontrolle von Behörden durch das Parlament nicht gewährleistet ist. Wo es auch Parallelen gibt zu Anschlägen in der Vergangenheit. Wo die Aufklärung immer an der gleichen Stelle scheitert, nämlich dann, wenn es um geheimdienstliche Belange oder „das Staatswohl“ geht. Dann legt sich ein Mantel des Schweigens und Vertuschens über die Aufklärung, und man kommt einfach nicht weiter. Selbst der Untersuchungsausschuss des Bundestages ist in seiner Arbeit an Grenzen gestoßen, sodass bis heute viele Fragen zu den Hintergründen und zum Ablauf des Terroranschlags ungeklärt sind – und offenkundig auch nicht aufgeklärt werden sollen!

Welche Forderungen oder Wünsche hat Ihre Initiative, sowohl in Richtung Politik als auch in Richtung Medien und an die Öffentlichkeit insgesamt?
Die wichtigste Forderung ist – neben der oben genannten stärkeren Berücksichtigung der Perspektive der Opfer – die Erfüllung unserer Rechtsansprüche. Dazu gehört auch eine angemessene und dauerhaft gesicherte materielle Entschädigung. Die Verpflichtung der öffentlichen Hand dazu ergibt sich aus dem vorausgegangenen Versagen des Staates, seine Bürger und Gäste zu schützen. Wir wissen heute, dass der Anschlag vom Breitscheidplatz nicht aus heiterem Himmel kam, dass Behörden den Attentäter auf dem Schirm hatten und das Verbrechen – wie Herr Schäuble im Juni 2021 betont hat – nicht nur hätte verhindert werden können, sondern – so wie es auch schon Herr Ströbele bereits 2017 gesagt hat – eben auch müssen. Und weil das nicht erfolgt ist, hat der Staat die Haftung zu tragen.
Eine weitere Forderung ist – ebenfalls aus der Verantwortung des Staates resultierend – die Kostenübernahme für Rechtsanwälte der Betroffenen, vor allem in sozialrechtlichen Fragen. Es kann nicht sein, dass Terroropfer, die durch einen Anschlag berufsunfähig sind und keine Einnahmen haben, auf ihre letzten Rücklagen zurückgreifen müssen, um zum Beispiel vor Gerichten ihre Ansprüche gegenüber Versicherungen und Versorgungsämtern durchsetzen zu können.

Finden Sie, dass der Anschlag vom 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz einen angemessenen Platz in der deutschen Erinnerungslandschaft hat?
Dieser Anschlag durchaus. Die Schicksale weiterer, durch politischen oder religiösen Extremismus Ermordeter sind jedoch weitaus weniger im öffentlichen Bewusstsein präsent. Jeder, der ein Leid als Folge eines Terroranschlags zu beklagen hat, hat das Recht auf ein Gedenken, dass dem Schicksal aller Betroffenen gerecht wird. Und es sollte ein Gedenken sein, bei dem sich auch Staat und Gesellschaft des Terrors und dessen ständiger Gefahren vergewissern, denn der Terror soll letztlich ja uns alle treffen.

Das Interview führte René Nehring.

• Astrid Passin ist Sprecherin der Hinterbliebenen und Betroffenen vom 19.12.2016.

Lesen Sie auch unseren Artikel über den Wissensstand zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz. 


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