Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Der Fall Nannen zeigt, dass sich die Deutschen noch immer gern an ihrer Vergangenheit abarbeiten. Die Ankläger des „stern“-Gründers verkennen jedoch, dass sein Verhalten vielleicht die einzige Art ist, um durch die Fallen der Zeiten zu schlingern
„Nichts ist zarter als die Vergangenheit;
Rühre sie an, wie ein glühendes Eisen;
Denn sie wird zugleich beweisen,
Du lebest auch in heißer Zeit“.
Die oben stehende Erkenntnis gab Goethe 1824 solchen Zeitgenossen zu bedenken, die mit „Wetterfähnchen“ auf jene aufmerksam machen wollten, die sich zwischen 1789 und 1815 den wechselnden Umständen geschickt angepasst hatten. Nicht Enthüllung oder Denunziation, sondern Diskretion hielten damals alle Besonnenen und Vernünftigen für geboten.
Den besiegten Deutschen nach 1945 wurde hingegen von den Siegern des Zweiten Weltkriegs eine Vergangenheitsbewältigung verordnet, bei der sie sich dauernd die Finger verbrennen und von der sie dennoch nicht lassen wollen, obwohl diese sie in immer neue Verwirrungen stürzt. Denn sie verstehen die Vergangenheitsbewältigung als einen Prozess, den sie mit ihren Vorfahren führen, und bei dem sie Ankläger und Richter zugleich sind im Namen höchster moralischer Ansprüche, denen ihre Groß- und Urgroßeltern kaum zu genügen vermögen. Nur die ganz Reinen und vom „Faschismus“ überhaupt nie in Versuchung geführten Deutschen können nachträglich Anerkennung finden und in das antifaschistische Walhall unserer Tage aufgenommen werden.
Die nimmer ruhende Vergangenheit
Doch selbst wenn sie in die Ruhmeshalle eingezogen sind, können sie sich ihres Platzes dort und ihres Nachruhms keineswegs sicher sein. Denn stets unruhige Antifaschisten graben immer wieder und wieder in den Sedimentböden der Vergangenheit und leiten umgehend ein Revisionsverfahren ein, sobald unbeachtete oder in ihrer Bedeutung unterschätzte Fundstücke die Erzählung von der Reinheit eines Zeitgenossen trüben.
Jetzt nehmen sie sich Henri Nannens an. Dieser in der Bonner Republik stets als vorbildlicher Demokrat geltende Journalist und Blattmacher, der jahrzehntelang als Schützer vieler Heil verheißenden und Unheil abwehrenden Bewegungen Lob und Preis erfuhr, wird gerade als peinlicher Opportunist entlarvt. Nannen hatte nämlich zwischen 1933 und 1945 sein und der Deutschen Heil und Unheil etwas anders als nach der Niederlage gedeutet.
Allerdings werden mit solchen Enthüllungen nur sperrangelweit geöffnete Türen eingerannt. Es gab nämlich genug Hinweise, dass dieser begabte „Öffentlichkeitsarbeiter“ schon früher seine Tüchtigkeit und Gesinnungstüchtigkeit in wechselnden Zusammenhängen bewiesen hatte. Doch erschien es früher wenig opportun, derartigen „Gerüchten“ gründlicher nachzugehen.
Eine kontaminierte Generation
Schließlich handelte es sich bei Nannen nicht nur um einen verdienten Demokraten, der am sausenden Webstuhl der Zeit erfolgreich für ein neues Deutschland tätig war und unnachsichtig ehemalige Parteigenossen wie Neofaschisten aufspürte, wo immer sie nach Macht und Einfluss strebten, sondern auch um den Chef des größten Wochenmagazins Europas. „Alte Geschichten“ aus gottlob nun fernen Zeiten ließ man bei einem so verdienstvollen Mann besser auf sich beruhen, zumal es sich bei ihm um einen „Linksliberalen“ handelte, der westliche Werte offensiv vertrat und für eine Verantwortungsgemeinschaft stritt, in der jeder dazu aufgerufen war, das seine zu tun, um allen möglichen Anfängen zu wehren.
Nannen ist kein Einzelfall. In allen Redaktionen saßen Kollegen, die je auf ihre Art Kompromisse mit der „Partei“ und den Erwartungen ihrer Funktionäre geschlossen hatten oder von der Sendung des Nationalsozialismus begeistert waren. Mochten viele unter ihnen weder dem „stern“ noch Nannen gewogen sein, so schien es denen doch sehr ratsam, nicht irgendwelche dunklen Stellen in dessen Werdegang aufzuhellen, weil solche sich mühelos auch bei ihnen entdecken ließen und sie ins Gerede bringen konnten.
Die Entnazifizierung war unvermeidlich mit viel Heuchelei, Lügen und Erfindungen verbunden. Gerade wer ehedem nicht als Nonkonformist auffallen wollte, reihte sich jetzt beflissen ein in die Scharen der aufrechten Demokraten und verabscheute besonders laut den Nationalsozialismus und beschäftigte sich, wie es sich gehörte, voller Abscheu, Empörung und Trauer damit, andere Anhänger des Ungeistes aufzuspüren und unschädlich zu machen.
Geübte Denunzianten
Viele der verantwortungsbewussten Orientierungshelfer, die nach 1945 im dauernden Entnazifizieren ihren Auftrag erkannten, ob in Zeitungen, Rundfunkanstalten, in Universitäten und allerlei humanistischen Zirkeln, waren in dieser Art Umgang mit der jüngsten Vergangenheit bestens vertraut. Es waren Parteigenossen, die schon nach 1933 eine gründliche Vergangenheitsbewältigung der von der NSDAP „Systemzeit“ genannten Weimarer Zeit bei all denen unternommen hatten, die ihnen aus mancherlei Gründen verdächtig vorkamen. So waren sie geübt darin, akribisch Verlautbarungen und Veröffentlichungen zu sammeln und zu redigieren, um Belege dafür vorzulegen zu können, warum einem nicht zu trauen sei, der nur als windiger Opportunist sich dem neuen Geist anpassen wolle oder sich als geläutert tarnte, um sein „liberalistisches Unwesen“ weiter treiben zu können.
Die Gesinnungsschnüffelei, die Denunziation, die Verleumdung, das gezielte Verwenden von Zitaten oder aus ihren Zusammenhängen gerückter Argumente, wurden unentbehrlich, um missliebige Personen fertigzumachen und aus dem öffentlichen Leben zu entfernen. Die sogenannten Kulturschaffenden, die ohne Neid, Missgunst und Schadenfreude gar nicht auskommen, konnten, gerade wenn sie früher, in der Weimarer Republik, nicht eben zurückhaltend aufgetreten waren, einander verdächtigen und manches Bein stellen – die einen, weil sie rechtzeitig den Umschwung erkannt hatten, die anderen, weil sie sich zu spät oder zu halbherzig anpassten.
Henri Nannen und zahlreiche andere rieben sich im Mai 1945 ein wenig verdutzt die Augen, aber verzagten nicht: Denn jetzt wurde wieder in die Hände gespuckt, wie es später in einem Schlager hieß, und energisch nicht der Wiederaufbau, sondern der völlige Neubau eines anderen, menschenfreundlichen und liebenswürdigen Deutschlands in Angriff genommen und erfolgreich durchgeführt.
Neustart mit anderen Vorzeichen
Ein solches Vorhaben ließ sich gar nicht ohne die immer noch jungen Leute wagen, die in der Zeit des Nationalsozialismus gelernt hatten, wie Leistung sich lohnen muss. Ihre Ziele und deren Rechtfertigung wechselten, nicht aber die Methoden und Techniken. Manchmal genügte nur eine neue Wortwahl. Statt vom „Volk“ war nun von der „Gesellschaft“ die Rede, die Volksgemeinschaft“ hieß nun „Sozialstruktur“, die „Rasse“ fand im „anthropologischen Aspekt“ ihren Ersatz, und die nationale Leidenschaft der „Reichsfreudigkeit“ fand in dem Willen zur „europäischen Integration“ eine neue Möglichkeit zur Entfaltung. Die Deutschen hatten gelernt, sich unter veränderten Formen vom Kaiserreich über „Weimar“ und den Nationalsozialismus geschickt zu verhalten.
Jeder Staat, vor allem jeder neue, ist auf Opportunisten angewiesen, die ihre Fahne nach dem Wind ausrichten. Die ebenso unpraktische wie weltfremde „Entnazifizierung“ rechnete nie mit dem Menschen, wie er im Normalfall ist, sondern mit einer idealen Abstraktion, die gerade nicht das bekömmliche Zusammenleben erleichtert.
Lebenslügen der Aufarbeitung
Heute wird unausgesetzt die Zivilgesellschaft beschworen. Diese aus den USA übernommene Redensart, die vieldeutig und deshalb beliebig verwendbar ist, enthält mit „zivil“ Erinnerungen an das lateinische „civilis“ und die mit ihr verbundene „civilitas“. „Civilis“ meint unter anderem umgänglich, zuvorkommend, rücksichtsvoll. Wo es genug „Zivilisten“ in diesem Sinne gibt, gelingt es, Freundlichkeit, Leutseligkeit und gutes Benehmen, eben „civilitas“, eine breite Anerkennung zu verschaffen. Doch der „civilitas“ in dieser Bedeutung stand nach 1945 die ununterbrochene Entnazifizierung im Wege, die auf Misstrauen, Argwohn, Verdächtigung und Schnüffelei und Wühlerei angewiesen ist. Die Unaufrichtigkeit, Beschönigung oder Lüge sind unvermeidlich bei jenen, die angeklagt und gezwungen werden, sich zu rechtfertigen und zu entschuldigen.
Die Publizistin Margret Boveri, die während des Nationalsozialismus für mehrere deutsche Zeitungen tätig war, schilderte in ihrer großen Studie „Wir lügen alle“ zum Journalismus unter den Bedingungen der NSDAP, wie sich jeder unweigerlich auf Kompromisse einlassen musste, nicht zuletzt in der Absicht, der Zeitung einen gewissen Freiraum zu erhalten. Ihre anfängliche Haltung, es anderen zu überlassen, fragwürdige, den Vorgaben der Partei weitgehend entsprechende Artikel zu schreiben, gab sie bald auf, weil diese Vorsicht, sich auf diese Weise ein reines Gewissen zu erhalten, völlig unkollegial und gewissenlos war, Ausdruck des Egoismus und einer ganz unmoralischen Eitelkeit. Der Druck, stets aufpassen zu müssen, ob nicht von irgendwo ein Angriff kommen könne, ließ die Zivilcourage verkümmern und die Heuchelei einen ungemeinen Aufschwung nehmen. Der geistige und politische Konformismus wurde zur Selbstverständlichkeit. Die Diffamierung und die Denunziation gerieten nahezu in den Rang bürgerlicher Tugenden. Wer klug war, enthielt sich öffentlicher Bekenntnisse oder bediente sich der erwünschten Floskeln. Es ist also nichts damit gewonnen, Entnazifizierte zu renazifizieren.
Auch die heutige Qualitätspresse oder die Universitäten, an denen vorzugsweise gelehrt wird, wie man seine Forschungen im Einklang mit der von Parteien und Organisationen präparierten öffentlichen Meinung hält, sind auf Richtlinien und Weisungen angewiesen, um die notwendigen Kompromisse nicht zu vernachlässigen. Der Zweckverband Bundesrepublik kann ohne Opportunismus gar nicht funktionieren, er bräche als System zusammen. Der SS-Hauptsturmführer Hans Ernst Schneider nannte sich nach 1945 Hans Schwerte und wurde zu einem vielfach geehrten Goethe-Spezialisten. Dennoch verfiel er sofort in Acht und Bann, als seine doppelte Identität 1995 bekannt gemacht worden war. Verdienen seine wissenschaftlichen Werke, auf die es allein ankommt, eine wütende Eliminierung aus dem wissenschaftlichen Gespräch?
Henri Nannen war trotz seiner Zugeständnisse an die offizielle Mentalität während und nach der NS-Zeit vor allem eines – ein herausragender Journalist. Insofern ist es unwürdig, unter dem Druck vollkommen dem vorherrschenden Zeitgeist angepasster Ideologen heute dem Nannen-Preis seinen ehrenvollen Namen zu entziehen.
Lesen Sie zu dieser Debatte auch den Beitrag von Holger Fuß.
sitra achra am 01.07.22, 14:19 Uhr
Der Zeitgeist formt die Menschen und zwingt sie zum Mitläufertum. Aus Civilitas wird leicht Servilitas.
Die Demokratie ist auch nichts anderes als eine Lebenslüge.