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Chemnitz im Veranstaltungsrausch – Von der sozialistischen Musterstadt zur europäischen Kulturhauptstadt 2025
Seit genau 40 Jahren machen Kulturhauptstädte Europas kulturelles Erbe sichtbar. Nach West-Berlin, Weimar und dem Ruhrgebiet mit Essen ist Chemnitz mit seinen rund 250.000 Einwohnern die vierte Europäische Kulturhauptstadt in Deutschland. Unter dem unvermeidlichen englischen Motto „C the unseen“ lädt sie dazu ein, bisher Ungesehenes zu entdecken.
Mit der Ernennung ist ein erhebliches Budget verbunden, das sich in Chemnitz aus Mitteln der Stadt, des Freistaates Sachsen, des Bundes sowie aus Sponsorengeldern und Förderprogrammen zusammensetzt und bislang rund 116 Millionen Euro umfasst. Entgegen vieler Annahmen ist die EU daran nur mit dem auf 1,5 Millionen Euro dotierten und nach der griechischen Schauspielerin und Politikerin Melina Mercouri benannten Preis beteiligt. Damit konnte sich Chemnitz ein Infrastrukturprojekt leisten, „das es in diesem Umfang (hier) ... noch nie gegeben hat“, so Michael Stötzer, Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau.
Dazu entstehen seit 2022 bis ins laufende Jahr hinein 29 „Interventionsflächen“: Grünanlagen, Parks und Wanderwege, Spiel- und Freizeitplätze sowie Begegnungs-, Sport- und Veranstaltungs- räume. Sie sind Teil des „Vermächtnisses“, das für jede Kulturhauptstadt verbindlich ist – oder es zumindest sein sollte – sowie den Gemeinsinn, die Kreativität und die Attraktivität der Stadt fördern soll.
Ein Leuchtturmprojekt ist die Hartmannfabrik in der Fabrikstraße direkt am Fluss Chemnitz, dem die Stadt ihren heutigen Namen verdankt. Von 1953 bis 1990 hieß sie bekanntlich Karl-Marx-Stadt. Die frisch sanierte denkmalgeschützte Produktionshalle ist eines der letzten Gebäude der Hartmann-Werke, die von 1837 bis 1930 eines der bedeutendsten Maschinen- und Lokomotivbau-Unternehmen Sachsens waren. Von dessen einstiger Bedeutung zeugt heute nur noch der stattliche Verwaltungsbau, jetzt Polizeidirektion, in der Hartmannstraße gegenüber.
Die Hartmannfabrik erinnert nicht nur an Chemnitz' reiche industrielle Vergangenheit, sie ist auch das zentrale Informationszentrum zum Kulturhauptstadt-Jahr. Schade nur, dass sie etwas abseits vom Zentrum der Altstadt liegt.
Da Chemnitz 1945 als Industriestadt insgesamt zu zwei Dritteln und in der Innenstadt sogar zu 95 Prozent zerstört wurde, sind nur wenige alte Bauten erhalten beziehungsweise wieder aufgebaut worden. Eingebettet in Neubauten verleihen sie der Stadt am Markt dennoch historisches Flair. Überragend ist das Ensemble aus Altem und Neuem Rathaus, jeweils ein Renaissance- und ein Neorenaissance-Bau, sowie der Jakobikirche, eine hochgotische Hallenkirche.
Der Expressionist aus Rottluff
Als Beigabe ziert eine Barockfassade die Westseite und ein Jugendstilhaus die Südseite des Platzes. Der 2022 eingeweihte Marktbrunnen von dem in London lebenden Künstler Daniel Widrig ist das erste Infrastrukturprojekt, das im Zuge der Kulturhauptstadt entstand. Mit seinen vier kreiselförmigen Elementen fügt er sich harmonisch in den Platz ein, so als ob er schon immer hier gestanden hätte.
Am Roten Turm, dem ältesten Wahrzeichen der Stadt, vorbei und weiter über die Brückenstraße mit dem emblematischen Karl-Marx-Monument erreicht man den nur gut einen Kilometer entfernten Theaterplatz. Mit Oper, Petrikirche, dem vornehmen Hotel „Chemnitzer Hof“ und den Kunstsammlungen ist er die „Gute Stube“ der Stadt. Am 9. Mai wird die Oper zur Bühne für die Gala zur Verleihung der Europäischen Kulturpreise. Als Preisträger bereits bekannt sind der Schauspieler Matthias Schweighöfer, der in Chemnitz zur Schule ging, und der Dresdner Kreuzchor.
Vertiefende Einblicke in Geschichte und Kultur bietet die Chemnitzer Museumslandschaft. Allein die Kunstsammlungen haben sechs Standorte: das 1909 eröffnete Museum am Theaterplatz, das Museum Gunzenhauser, das Schlossbergmuseum, das Henry-van-de-Velde-Museum in der Villa Esche, die Burg Rabenstein und das als Interventionsfläche frisch sanierte und eröffnete Karl-Schmidt-Rottluff-Haus. Das Gründungsmitglied der Künstlervereinigung „Brücke“ gab sich den Namenszusatz Rottluff nach dem heute eingemeindeten Vorort, in dem der Maler geboren wurde. Neben der ständigen Schmidt-Rottluff-Ausstellung im Museum am Theaterplatz soll dessen Elternhaus in der Limbacher Straße 382 zum neuen Anziehungspunkt für die Freunde des Expressionismus werden.
Höhepunkt der diversen Sonderausstellungen ist das Projekt „Edvard Munch. Angst“ im Museum am Theaterplatz vom 10. August bis 2. November. Daneben hofft man mit „European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“ (Museum Gunzenhauser, 27. April bis 10. August) oder „Die neue Stadt. Chemnitz als Karl-Marx-Stadt“ (Schlossbergmuseum, 4. Mai bis 1. Februar 2026) auf ein breites Interesse.
Als sozialistische Musterstadt beeindruckt Chemnitz bis heute durch seine Großzügigkeit, seine Aufgeräumtheit und seine schon zu DDR-Zeiten bewusst autofreundlich angelegten mehrspurigen Straßen. Architektur-Freunde haben die Auswahl unter 3424 Kulturdenkmalen, vor allem aus dem 19. und 20. Jahrhundert, darunter das Stadtbad von 1935 in der Mühlenstraße oder das Gründerzeit- und Jugendstilviertel auf dem Kaßberg.
Eine Ikone des Neuen Bauens ist das ehemalige Kaufhaus Schocken am Stefan-Heym-Platz. Die Entwürfe zu dem 1930 eröffneten Bau mit der konvexen Vorhangfassade lieferte der renommierte Architekt Erich Mendelsohn (1887-1953). Seit 2014 beherbergt er das archäologisch-kulturelle Landesmuseum des Freistaates Sachsen smac. Mit seinem klaren Konzept, der Einbettung der Exponate in größere Zusammenhänge und dem herausragenden Design gehört es zu den attraktivsten Museen Deutschlands.
Das „sächsische Manchester“
Präsentiert werden 300.000 Jahre Menschheits- und Kulturgeschichte. Zu den Glanzstücken aus Sachsen gehören das Schieferplättchen von Groitzsch mit den eingeritzten Pferdeköpfen, die aus beziehungsweise mit Rindenbast dekorierten Gefäße sowie der Adonis von Zschernitz und die Venus von Zauschwitz aus der Alt- und Jungsteinzeit. Die Pferdeköpfe von 12.5000 v. Chr. sind die älteste bildliche Darstellung Sachsens. Sie werden im Zusammenhang mit Höhlenmalereien und kleinen Tierfiguren anderer Regionen Mitteleuropas gezeigt.
Die ähnlich großartig konzipierte Sonderausstellung „Silberglanz und Kumpeltod“, die noch bis 29. Juni zu sehen ist, gilt dem Bergbau mit einem Fokus auf das Erzgebirge, das sich entlang der deutsch-tschechischen Grenze südlich von Chemnitz erstreckt. Ein Rückblick mit Ausblick: Aktuell gibt es Bestrebungen, den Bergbau wiederzubeleben und seltene Elemente wie Zinn, Silber und Lithium abzubauen. Eindrücklich dokumentiert die Ausstellung, wie tief die Identifikation mit dem Bergbau in den ehemaligen Montanregionen ist.
Am Bergbau kommt auch das Industriemuseum in der rund hundert Jahre alten ehemaligen Gießerei- und Maschinenhalle an der Zwickauer Straße 119 nicht vorbei. Auch nicht an Georgius Agricola (1494–1555), der unter anderem Bürgermeister von Chemnitz war und als „Vater der Mineralogie“ die Grundlagen für den modernen Bergbau lieferte. Seine Werke wurden sogar ins Chinesische übersetzt.
Die Messe-artig aufgebaute Ausstellung vereint punktuell einen Streifzug durch 220 Jahre sächsische Industriegeschichte zwischen Bergbau und Textilindustrie, Maschinen- und Automobilbau. Es empfiehlt sich, das Augenmerk zuerst auf die Auswahl an Kernprodukten auf dem silbernen Band zu richten, das sich quer durch die große Halle zieht. Besonderer Schatz des Museums ist die Funktionsfähigkeit vieler Maschinen, insbesondere der Textilmaschinen, die zum Teil noch aus dem späten 19. Jahrhundert stammen. Im Rahmen von Vorführungen treten sie bis heute in Aktion.
Chemnitz gab einst den Startschuss für die Industrialisierung in Sachsen und entwickelte sich zum „sächsischen Manchester“. Doch ein solches „Manchester“ wie jenes Original in Nordengland, gab es auch im elsässischen Mülhausen, finnischen Tampere, bulgarischen Gabrovo und polnischen Lodsch. Die Sonderausstellung „Tales of Transformation“ vom 25. April bis 16. November fragt, wie diese Städte mit dem industriekulturellen Erbe umgehen und welche Strategien sie für ihre Zukunft haben. Bis heute ist die Region ein innovativer Industrie- und Technologiestandort mit 11.000 an der Technischen Universität Chemnitz eingeschriebenen Studenten und Volkswagen als Premium-Sponsor der Kulturhauptstadt.
Zur Kulturhauptstadt-Region gehören 38 Kommunen aus Mittelsachsen, dem Erzgebirge und dem Zwickauer Land. Wenig bekannt sind deren zahlreiche Schlösser und Burgen. Zwei Beispiele: Bequem mit dem Zug bis Erdmannsdorf und weiter mit der Drahtseilbahn zu erreichen ist Schloss Augustusburg, das auf dem 516 Meter hohen Schellenberg hoch über dem Zschopautal thront. Das monumentale Jagd- und Lustschloss des Kurfürsten August von Sachsen zählt zu den repräsentativsten Renaissance-Schlössern Mitteleuropas.
In vorbildlichem Zustand beherbergt es heute mehrere Museen. Darunter das Schlossmuseum mit einer Jagdtier- und Vogelkunde-Präsentation, vor allem aber das Motorradmuseum mit einer der bedeutendsten Zweiradsammlungen Europas. Das Kutschenmuseum in den ehemaligen Stallungen soll im Juni 2025 neu eröffnet werden. Im wahrsten Sinne des Wortes tief beeindruckend ist der 130 Meter tiefe Burgbrunnen. Das „bergmännische Abteufen“ in dem extrem harten Vulkangestein hatte neun Jahre gedauert.
Von dem Barockschloss Lichtenwalde in Niederwiesa war schon Friedrich der Große derart begeistert, dass er das Haus, die darin enthaltenen Kunstsammlungen und die gesamte Herrschaft auf Bitten des Schlossherrn im Siebenjährigen Krieg unter seinen persönlichen Schutz stellte. Angesichts der schrecklichen Verwüstungen in Sachsen grenzte diese Maßnahme an ein Wunder. Saniert und neu strukturiert wurde diese „Perle im Zschopautal“ 2010 neu eröffnet. Eine Oase ist der zehn Hektar große Barockpark, in dem das Wasser im Sommer aus 335 historischen Fontänen nur so plätschert und sprüht.
sitra achra am 14.04.25, 15:52 Uhr
Diese Stadt ist eine Reise wert!