28.03.2024

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Gesellschaft

Mehr Realismus wagen

Bei der Vorstellung ihres Koalitionsvertrags verkündeten die Regierungsparteien noch, „mehr Fortschritt wagen“ zu wollen. Der Ukrainekrieg erweist sich nun vor allem für Grüne und Sozialdemokraten als harter Lehrmeister in Sachen Realpolitik

Reinhard Mohr
15.04.2022

Auch in der achten Woche seit Kriegsbeginn sitzt der Schock in ganz Europa tief – allenfalls vergleichbar mit der Erschütterung nach den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001. Seitdem gefühlt „wie aus dem Nichts“, in Wahrheit nach jahrelanger Vorbereitung, Putins Angriffs- und Vernichtungswelle durch die Ukraine rollt, vollziehen sich in der politischen Landschaft aufsehenerregende Veränderungen, vor allem in Deutschland.

Plötzlich wird von einer „Zeitenwende“ gesprochen, von einer massiven Aufrüstung der Bundeswehr und einer neuen Härte gegenüber Putins Russland, das versucht, seinen Macht- und Einflussbereich mit brutaler Gewalt auszudehnen. War eben noch von „Dialogbereitschaft“, „friedlicher Kooperation“ und „Wandel durch Handel“ die Rede, so geht es nun um Verteidigungsbereitschaft, Raketenabwehr und Katastrophenschutz.

Wiederkehr verdrängter Begriffe

Vom Zeitgeist längst eingemottete Begriffe wie „Tapferkeit“ und „Heldenmut“ tauchen im Blick auf den ukrainischen Widerstand aus der Versenkung wieder auf, und der stets „im Zweifel linke“ „Spiegel“ veröffentlicht einen ausführlichen Artikel über die Vorzüge deutscher Panzer, darunter Leopard 2 und Marder.

Luftabwehr statt Latte Macchiato ist die Losung der Stunde. Schon beklagen die üblichen Verdächtigen wie der Mode-Soziologe Harald Welzer eine „Militarisierung des Denkens“, denn wie selbstverständlich reden nun auch die eigentlich pazifistischen Grünen vom Zusammenhalt der NATO und des Westens insgesamt, setzen sich für Waffenlieferungen ein und demonstrieren ihre Nähe zu den Soldaten, für die sie bislang kaum etwas übrig hatten, wenn sie nicht gerade Sandsäcke an der Oder stapelten oder am Telefon des Neuköllner Gesundheitsamtes Corona-Infektionsketten nachverfolgten.

Man reibt sich die Augen: Sind das dieselben Grünen, die unlängst noch angesichts einer verheerenden Flutkatastrophe wie im Ahrtal zuallererst darauf schauten, dass im Pressetext des Umweltministeriums die Gendersternchen korrekt gesetzt wurden und anschließend in den vierwöchigen Frankreich-Urlaub fuhren? Jene Grünen, die Diversität, Nachhaltigkeit und eine feministische Außenpolitik predigen und für die Vier-Millionen-Metropole Berlin „mehr Bullerbü“ vorschlagen, das schwedische Kinder-Idyll von Astrid Lindgren?

Oder handelt es sich hier nur um ein vorübergehendes Phänomen, das unter akuter Schockwirkung zustande kam?

Attacke auf das Wohlstands-Biotop

Fürs Erste jedenfalls steht die Diagnose: Lummerland ist abgebrannt, jene eingebildete Insel des ewigen Friedens, auf der es zuletzt vor allem um Lastenfahrräder, Wärmepumpen und die Reduzierung des Fleischkonsums ging, um Klima und Corona, was schlimm genug war, aber mit Windrädern, Impfstoffen und Karl Lauterbach bekämpft werden konnte.

Nun kommt aus der Tiefe des historischen Raumes, der zumindest bis ins imperialistische 19. Jahrhundert zurückreicht, eine geradezu anachronistisch anmutende Attacke auf unser friedensverwöhntes Regenbogen-Wohlstands-Biotop, die weder mit gutem Zureden noch mit dem bewährten Hausmittel der deutschen Politik – „Mehr Geld in die Hand zu nehmen“ – abgewehrt werden kann.

Es ist die schiere Unvorstellbarkeit eines solchen Zivilisationsbruchs mitten in Europa, die ein „Weiter so“ der Nach-Merkel-Republik nicht gestattet. Jahrzehnte scheint es heute her, dass die zentrale Wahlkampfparole der CDU lautete: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ – tatsächlich stammt das Poesiebildchen eines Neo-Biedermeier im 21. Jahrhundert aus dem Geiste des Faber-Castell-Buntstiftkastens für Erstklässler von 2017.

Bringt die Zeitenwende an der Heimatfront also wirklich ein Ende der politischen Naivität mit sich? Kehrt nun ein neuer Realismus in die deutsche Debatte ein? Ist jetzt wirklich Schluss mit all den Beschönigungen und Selbsttäuschungen, die nun allenthalben beklagt werden?

Freude an der Selbstkritik

Erstaunlich, ja geradezu ein neuer Trend ist die endemisch gewordene Selbstbezichtigung von Spitzenpolitikern, sich „geirrt“, „getäuscht“ und falsch entschieden zu haben. Hätte man all das bloß geahnt! Wer konnte das wissen?

Ob Bundespräsident Steinmeier, CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble, Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und bis eben noch erbitterte und mit allen Haken und Ösen kämpfende Verfechterin von Putins Nord Stream 2, Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Mathias Platzeck oder FDP-Vize Wolfgang Kubicki – „50 Jahre meiner politischen Agenda haben sich in Luft aufgelöst“: Das „mea culpa“ ist in aller Munde, im Mengenrabatt offenbar preiswerter denn je.

Alle bekennen, von Putins Angriffskrieg völlig überrascht worden zu sein, obwohl sie doch über weit mehr Einblick in die Entwicklungen, darunter Geheimdienstinformationen und Experten-Dossiers, verfügen als jeder Normalbürger. Der französische Philosoph und Putin-Kenner, der dem Kreml-Herrscher eine abstruse, mythologisch unterfütterte „ideologische Selbstradikalisierung“ attestiert, resümiert im „Spiegel“: „Wir haben nicht ernst genommen, was Putin seit Jahren sagt. Er sagt seit zehn Jahren das Gleiche: der Westen. Der Liberalismus. Die Bedrohung Russlands. Und ich glaube, dass wir ihn nicht ernst genommen haben, weil wir dachten, ein Krieg wäre unmöglich.“

Doch so ehrenwert späte Eingeständnisse des Scheiterns auch sind – was sagt uns das über Kompetenz und Qualifikation von Spitzenkräften unserer Republik, deren erste Aufgabe es ist, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“? Wo waren hier strategische Analyse, politische Weitsicht und vorausschauende Vorsorge?

Was immer man sonst von den Grünen halten mag, die bis eben gerade von Waffenlieferungen auch nichts wissen wollten: Sie warnen seit Jahren vor der autoritären, kleptokratischen und diktatorischen Entwicklung Russlands unter Putin, die spätestens seit der Annexion der Krim vor acht Jahren immer stärker aggressiv-totalitäre Züge angenommen hat. Selbst auf die dringenden Appelle von Polen, Tschechien und den baltischen Staaten, Abstand zu nehmen von Nord Stream 2, wollte man nicht hören. Und genau hier schließt sich ein historischer Kreis, der vor allem die Sozialdemokraten betrifft.

Erbsünden der Sozialdemokratie

Osteuropa war für sie schon immer eine Art Glacis, ein minder wichtiges Vorfeld der Sowjetunion, de facto ihr gleichsam legitimer Einflussbereich: ein Erbhof. Wenige Wochen, nachdem der „Prager Frühling“ mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 ein gewaltsames Ende gefunden hatte, traf der damalige Außenminister Willy Brandt seinen sowjetischen Amtskollegen Andrej Gromyko, um die „gegenseitige Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft“ auszuloten. „Die militärische Okkupation der Tschechoslowakei und ihr künftiges Schicksal wurden mit keinem einzigen Wort mehr erwähnt“, heißt es dazu in einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung.

Fast immer waren die Sozialdemokraten auf Seiten der Macht und des Status quo. Die Angst vor unkontrollierbaren Entwicklungen, erst recht vor Volksaufständen gegen die Sowjetherrschaft und ihrer Satrapen in Osteuropa war größer als die Sympathie für Freiheitsbewegungen, die sich gegen die kommunistische Gewaltherrschaft auflehnten. So galten Vaclav Havel und Lech Walesa vielen sozialdemokratischen „Entspannungspolitikern“ als gefährliche, gar „reaktionäre“ Unruhestifter. Nach dem Militärputsch des polnischen Generals Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 gegen die „Solidarnosc“-Bewegung sagte Bundeskanzler Helmut Schmidt ausgerechnet während eines Besuchs in der DDR: „Wir bedauern, dass dies notwendig wurde.“

Auch DDR-Dissidenten wurden von der offiziellen Politik kaum beachtet. Lieber verfasste man ein „SPD/SED-Grundsatzpapier“, das Züge einer Anbiederung an Erich Honeckers Politbüro trug. Diese prinzipielle moralische und politische Relativierung diktatorischer Regime hat sich bis heute gehalten. Erst der durch absolut nichts mehr zu rechtfertigende Vernichtungskrieg Putins in der Ukraine brachte diese jahrzehntelang gehaltene Position ins Wanken.

Restbestände der Ostpolitik

Doch noch immer finden sich Restbestände dieser einstigen Ostpolitik etwa in der verdrucksten Zögerlichkeit, mit der Bundeskanzler Scholz und seine überforderte Verteidigungsministerin effektive und kurzfristige Waffenlieferungen an die Ukraine hintertreiben. Auch Scholz gehörte zu jenen Sozialdemokraten (deren extremste Ausprägung Ex-Kanzler Schröder verkörpert), die mit jenem Russland- und „Putin-Kitsch“ ihre Politik des Appeasements legitimierten, die der Historiker Karl Schlögel jüngst anprangerte.

Dabei konnten sie stets auf eine in Deutschland verbreitete Russland-Romantik zurückgreifen, die auch ihre wahrhaftigen Motive hat. Ein ganz privates Beispiel: Der Großvater des Autors dieser Zeilen, ein Hitler-Gegner der ersten Stunde, nahm als Wehrmachtssoldat zerfledderte Bände von Tolstoi und Dostojewski mit an die Ostfront.

In seinem Werk „Lauter letzte Tage“ stellte Friedrich Sieburg fest, Deutschland schwanke stets zwischen Macht und Ohnmacht, „zwischen Übermut und Reue“, „Hochmut und Zerknirschung“. So lebe „es seit eh und je, niemals zu einer natürlichen Klarheit über sich selbst gelangend“.

Ob sich daran nun etwas ändert und tatsächlich die Chance auf ein Ende jener politischen Naivität besteht, die hierzulande immer mit einem Idealismus verbunden ist, deren Geschwister Moralismus, Opportunismus und Ängstlichkeit heißen, wird sich zeigen. Womöglich schneller als gedacht.

Debatten statt Denkverbote

Denn sowohl in der Klima- als auch in der Migrationspolitik schlummern vergleichbare Herausforderungen an einen neuen Realismus, denen sich die neue „Ampel“-Regierung stellen muss. So erscheint der vom Wirtschaftsminister vorgestellte Plan, vor allem mit Wind- und Sonnenenergie, unter Verzicht auf Kohle- und Atomstrom, einen klimaneutralen Ersatz für russisches Öl und Erdgas zu finden, durchaus fragwürdig – schon gar in der Frist von wenigen Jahren.

Ob der Krieg „der Vater aller Dinge“ ist, wie Heraklit meinte, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist er ein Lehrmeister auch für die, die nicht direkt an ihm beteiligt sind. Wie steil aber die berüchtigte Lernkurve in der deutschen Politik angesichts des akuten Realitätsschocks ausfällt, wird auch davon abhängen, ob politisch korrekte Tabus und moralisierende Denkverbote einer neuen, streitlustigen Debattenkultur weichen.

 Reinhard Mohr war von 1996 bis 2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Zuletzt erschien „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag 2021).
www.europa-verlag.com


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Kommentare

claude de jean am 12.07.22, 15:15 Uhr

Ich bin ein Russlandversteher,genauso wie ein US Verachter.
Eine Nation die sich immernoch weigert,uns in die Freiheit zu entlassen...

"Ami goe Home" niemals war der Arschtritt wichtiger...

Thomas Fischer am 25.05.22, 05:01 Uhr

Warum gesteht Amerika den Russen nicht zu, was es selbst beansprucht. Würden die Amerikaner russische Raketenbasen vor ihrer Haustür akzeptieren? Mitnichten. Aber die NATO vor der Tür Rußlands ist akzeptabel. Jedes Land hat eigene Interessen, hier einen Kompromiss zu finden, nennt sich Diplomatie. Offenbar ist dieses Wort aus der Mode gekommen. Der Krieg in der Ukraine tobt bereits seit 8 Jahren. Erfahren habe ich darüber in der Vergangenheit nichts…

Jan Kerzel am 19.04.22, 18:23 Uhr

Der Autor sieht erkennt viele Verbindungen zwischen der UDSSR, der RF und der BRD. Der Anteil der CDU/CSU- Regierungen kommt mir aber etwas zu kurz, schließlich war sie in den letzten 16 Jahren die Regierungspartei A1. Auch die innenpolitische, gesellschaftspolitische und wirtschaftspolitische Lage lag in den Händen der Union, zuallererst. ( Beispiel: Thüringen u.a.) Die Energiepolitik geht z.B. voll auf ihre Kappe. Frau Dr. Merkel war die unangefochtene CDU- Vorsitzende. Sowohl Laschet als auch Söder konnten noch 2021 nicht genug diese Politik als den einzigen Erfolgsweg propagieren, obwohl der Scherbenhaufen im Nebeldunst der staatlich gelenkten Mainstream- Medien schon lange sichtbar war. Die Russlandpolitik wurde von SPD und CDU/ CSU gemeinsam getragen. Natürlich möchte sich die Union jetzt mit Verweis auf Frau M. davonschleichen. Pustekuchen. Frau M. war die Inkarnation der Union, bis vor ganz kurzer Zeit.

sitra achra am 16.04.22, 11:41 Uhr

Die nächste Phase des gewagten "Fortschritts" wäre die totale Verwesung. Die Sozialdemokratie stinkt bereits zum Himmel.

Michael Holz am 15.04.22, 12:04 Uhr

Man merkt, dass Mohr vom (Zerr)-Spiegel kommt. Diesen habe ich nur als "illegale Einfuhr" in der DDR gelesen. Danach hat sich Vieles geändert. Warum soll ich nun dieses Blatt in der PAZ lesen? Ich bin ein Putin-Versteher! Ich verstehe ja auch meine Frau und unsere Katze. Das heißt doch nicht, dass ich deren Meinung bin.
Mohr schmeißt Krümchen Wahrheit hin und verbirgt dahinter Lügen. "Putins Angriffs- und Vernichtungswelle" Wirklich????

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