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Streik auf der Lenin-Werft vor 40 Jahren

Mit einer Kündigung in Danzig begann der Untergang des Kommunismus

Die DDR drängte auf „brüderliche Hilfe“ für Polen durch die Nationale Volksarmee, doch der Kreml griff nicht ein

Klaus J. Groth
12.08.2020

Die Polen hatten die Nase voll von Mangelwirtschaft, den stets leeren Regalen in den Geschäften. Das Murren in den Städten wurde lauter. Von Lubmin verbreiteten sich Unruhen seit dem Frühjahr 1980 über das ganze Land. Vor 40 Jahren, am 14. August 1980, wurde auf der Leninwerft in Danzig zum Streik aufgerufen. Schon bald war die Werft Zentrum der Unruhen.

Kündigung von Anna Walentynowicz

Was als Protest gegen die wirtschaftliche Situation begann, weitete sich zur politischen Kraftprobe aus. Die Politik war anfangs kein Thema. Den Akteuren war bewusst, dass sie sich mit dem sowjetkommunistischen Regime nicht anlegen konnten, das wäre eine Herausforderung an die Machthaber im Kreml gewesen. Auslöser für den Streik war die Kündigung der Kranführerin Anna Walentynowicz.

Der Grund für die Kündigung schien fadenscheinig. Allerdings war bekannt, dass die frühere Kommunistin in der Opposition agierte und heimlich Flugblätter verteilte. Aus dem kleinen Solidaritätsstreik entwickelte sich eine Bewegung, aus der heraus die freie Gewerkschaft „Solidarität“ (Solidarność) entstand und die Lech Wałęsa auf die politische Bühne hievte. Bald ging es um mehr als die Rücknahme der Kündigung. Es wurden höhere Löhne gefordert. Und der Bau eines Denkmals für die Opfer des Aufstandes im Dezember 1970.

Zehn Jahre zuvor war die Lenin-Werft in Danzig Ausgangspunkt für einen Aufstand gewesen, der im Dezember 1970 die Volksrepublik Polen erschütterte. Damals hatten Gerüchte über anstehende Preiserhöhungen für Lebensmittel die Menschen auf die Straßen getrieben. Tatsächlich wurden kurz vor Weihnachten die Preise um bis zu 38 Prozent erhöht. Das Land geriet an die Grenze eines Bürgerkrieges. Die Regierung setzte Milizen und Militär ein. Offiziell kamen 45 Menschen ums Leben. In Wahrheit dürfte die Zahl der Opfer doppelt so hoch gewesen sein. Für diese Opfer forderten die Streikenden nun ein Denkmal.

Die Unruhen von 1970 beendeten die Herrschaft von Parteichef Wladyslaw Gomulka. Sein Nachfolger als Erster Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) wurde Edward Gierek, der noch im Amt war, als nun erneut Unruhen auf der Lenin-Werft in Danzig ausbrachen.

Nach dem 14. August weiteten sich die Streiks von Tag zu Tag aus, schlossen sich andere Betriebe an. Ein Streikkomitee stellte 21 Forderungen auf. Dazu gehörten: unabhängige und freie Gewerkschaften, Garantie des Rechts auf Streik, Freiheit des Wortes, unabhängige Zeitschriften, Freilassung aller politischen Häftlinge, Anhebung des Grundlohns, Einstellung von Führungskräften nach Qualifikation statt nach Parteibuch, Senkung des Rentenalters auf 50 Jahre für Frauen und 55 Jahre für Männer, Verkürzung der Wartezeit auf Wohnungen, Einführung von freien Sonnabenden für die Arbeiter im Schichtdienst. Es war ein ziemlich bunter Strauß, den die Streikenden zusammengestellt hatten, doch noch immer überwogen die sozialen Forderungen. Die wichtigsten Punkte aber waren nun politischer Art.

Anstoß zum Systemwandel

Die Herausforderung an die Parteiführung war eindeutig. Parteichef Gierek nannte die Streikenden „unverantwortliche Elemente, anarchistische und antisozialistische Gruppen“, deren Aktivitäten nicht hingenommen werden könnten. Der Blick ging nach Moskau. Wie würde der Kreml auf den erkennbaren Machtverfall in Polen reagieren? Doch der Kreml schwieg verwirrt.

Stattdessen übernahm die DDR die Rolle des Scharfmachers. Sie plädierte für einen Einmarsch in Polen, den sie „brüderliche, internationalistische Hilfe“ nannte. Erich Honecker drängte darauf. Die NVA stand vorbereitet in der Nähe der Grenze. Es hätte eine Katastrophe bedeutet, wären deutsche Truppen abermals in Polen einmarschiert. Wie weit das im Rahmen des Denkbaren lag, verdeutlicht eine Passage in den Memoiren des damaligen polnischen Verteidigungsministers, des späteren Staats- Regierungs- und Parteichefs Wojciech Jaruzelski: Ein Einmarsch der Deutschen hätte verhängnisvoll werden können. Dann wäre die polnische Armee nicht mehr zurückzuhalten gewesen. „Ich habe vorausgesehen, dass dies den Russen auch klar war und dass sie es sich überlegen würden.“ Überlegt hatte der Kreml lange, wie die aufmüpfige Opposition in Polen zu bändigen sei.

Vorläufig bestimmte die Gewerkschaft „Solidarität“ das Geschehen. Sie hatte einen starken moralischen Helfer. 1978 war der Krakauer Kardinal Karol Józef Wojtyła zum Papst gewählt worden. Als Johannes Paul II. stützte er die Opposition. Hingegen blieb die Unterstützung durch westdeutsche Gewerkschaften, wie ehemalige Aktivisten rückblickend feststellen, eher verhalten. Noch zurückhaltender sei die von der SPD geführte Bundesregierung gewesen, die sich vermutlich in ihrer Ostpolitik behindert gefühlt habe. Immerhin sah Gerhard Schröder Jahre später bei einer Rede im polnischen Parlament ein: „Polens Freiheit war auch immer ein Indikator für die Freiheit Deutschlands und für die Freiheit Europas. Polens Bürgerrechtler, Gewerkschafter und freiheitsliebende Intellektuelle haben diesen Zusammenhang immer, und manchmal sehr viel früher als andere, so gesehen.“

Diese Erkenntnis kam lange nach dem erkämpften Erfolg der „Solidarität“. Am 31. August 1980 unterschrieb der ehemalige Betriebselektriker Wałęsa ein Dokument, das seither als „Danziger Erklärung“ bekannt ist. Wałęsa freute sich: „Es ist soweit! – Endlich haben wir unabhängige, selbst verwaltete Gewerkschaften – Wir haben das Streikrecht!“

15 Monate schien es, als setze in Polen anhaltendes Tauwetter ein. Unmittelbar nach der staatlichen Anerkennung der „Solidarität“ als Gewerkschaft wurde die Parteispitze ausgetauscht. „Solidarität“ und Partei rangen in dieser Zeit um die Meinungsführerschaft in Polen. Dem setzte Jaruzelski ein Ende, nachdem er im Oktober 1981 Erster Sekretär geworden war. Er verhängte am 13. Dezember das Kriegsrecht, um den Einfluss der Gewerkschaft zu stoppen. Wałęsa wurde zusammen mit anderen Gewerkschaftsführern interniert. Die von der „Solidarität“ in Bewegung gesetzte Welle ließ sich allerdings nicht mehr stoppen. Sie gab den Anstoß zum Systemwandel, leitete das Ende der Volksrepublik Polen ein und war Voraussetzung für die Schaffung der Dritten Polnischen Republik.


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