26.04.2024

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Gesellschaft

Sehnsucht nach der heilen Welt

Der ZDF-„Bergdoktor“ geht in die 15. Staffel. Für ein Millionenpublikum ist der TV-Arzt längst für mehr zuständig als nur für die Leiden seiner fiktiven Patienten. Was der Erfolg der populären Fernsehserie über die emotionale Lage der Republik aussagt

Reinhard Mohr
13.01.2022

Nun saust er wieder in seinem alten nickelgrünen Mercedes 200, 94 PS, Baujahr 1979, über Berg und Tal am „Wilden Kaiser“ in den Tiroler Alpen: Dr. Martin Gruber, der legendäre „Bergdoktor“ ist wieder da, jeden Donnerstagabend im ZDF um 20.15 Uhr.

Zwischen Intensivstation und Bergbauernalltag, rätselhaften Virenstämmen und dramatischen Felsstürzen schieben sich traumhaft schöne Bildsequenzen aus dem ewigen Luis-Trenker-Fundus, der daran erinnert, dass Filme wie „Der Berg ruft“ und „Flucht in die Dolomiten“ immer schon die notorische Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, unberührter Natur und seelischer Geborgenheit stillten.

Therapeut der Fernsehnation

Nicht nur von seinen TV-Patienten, sondern auch von den bis zu acht Millionen Zuschauern wird die Ankunft des „Bergdoktors“ im Januar 2022, zu Beginn des dritten Corona-Jahres, so dringend erwartet wie nie. Denn der österreichische Schauspieler Hans Sigl, 52, Titelheld der äußerst erfolgreichen Fernsehserie, die nun in die 15. Staffel geht, ist nicht nur für Fettleber, komplizierte Herzklappenprobleme und infektiösen Reizdarm zuständig, sondern vor allem für das seelische Wohlbefinden des Fernsehpublikums, das längst weit über die deutschsprachigen Länder Europas hinausreicht. Selbst aus Japan pilgern inzwischen Touristen zu den pittoresken Drehorten zwischen Ellmau, Söll, Scheffau und Going. Im Sommer gibt es sogar „Fan-Feste“ am „Wilden Kaiser“.

Unzweifelhaft ist der Bergdoktor vor allem ein telepathisch wirkender Seelendoktor „Es ist ja auch kein Zufall, dass zwei archaische Begriffe im Serientitel sind: Berg und Doktor. Das berührt bei den Leuten was“, sagte Sigl kurz vor Weihnachten dem „Spiegel“.

Doch nicht alle wollen dazu stehen. Schon gar nicht Akademiker, die eigentlich fünfstündige Beckett-Adaptionen im Experimentalkino bevorzugen sollten. Eine gestandene Universitätsprofessorin, so Hans Sigl im Gespräch mit dem Autor anno 2017, habe ihm einmal leise zugeflüstert, dass sie den „Bergdoktor“ schaue, ebenso wie ihr Mann, gleichfalls Professor. Ein echtes Geständnis, fast wie im Beichtstuhl.

Sigls nicht ganz abwegige Vermutung: „Viele Zuschauer aus den gebildeten Ständen wollen nicht zugeben, dass sie am Ende geweint haben, wenn jemand im Krankenhausbett gestorben ist.“ Kommt hier also zur zeitgeist- und klimabedingten Flug- und Mallorca-Scham auch noch die „Bergdoktor“-Scham, die Erbsünde verbotener Gefühle von Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit vor wild gezackten Gipfelpanoramen?

„Manchmal kommt es mir so vor, als würden wir eine Art Alpen-Porno drehen“ – Sigls vor Jahren halb ernst, halb ironisch geäußerte Befürchtung, als verlogene Heimatschmus-Peepshow für Spießer mit Berghüttenhintergrund zu gelten, hat sich längst erledigt. Denn er hat „eine Fangemeinde“, so schreibt die Frauenzeitschrift „Brigitte“ in ihrem aktuellen sieben Seiten langen Porträt, „die es sonst nur im Fußball gibt“.

Darunter ist auffallend viel junges Publikum. Bei den 14- bis 49-Jährigen erzielte der Bergdoktor zuletzt einen Marktanteil von über zehn Prozent, doppelt so viel wie im sonstigen Programm bei der Generation Netflix. In der Mediathek wurde die letzte Staffel allein bis April 16,2 Millionen Mal abgerufen.

Aber was ist es eigentlich genau, was sogar die Feministin Alice Schwarzer, bekennender „Bergdoktor“-Fan, vor den Fernseher lockt? Hans Sigl meint es zu wissen: „Die Serie ist der reine Eskapismus“, sagt er dem „Brigitte“-Reporter. Ein Fluchtreflex also.

Auch wenn es nicht alles erklärt: Da ist etwas dran. Denn in diesen eher dunklen Wintertagen stöhnen viele Zeitgenossen, ob geimpft oder ungeimpft, doppelt geimpft, getestet oder geboostert, ob Querdenker oder Nachdenker, ob binär oder non-binär-divers, weiß oder schwarz: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr! Ich will hier raus, weg aus diesem Endlos-Albtraum! Sind wir ein Land am Rande des Nervenzusammenbruchs?

Genervt vom Alltag

Es beginnt früh im ZDF-Morgenmagazin und endet irgendwann nach Mitternacht: 2G, 2G-plus, 3G, dritte, vierte, fünfte Welle, Omikron und Deltakron, Schulen schließen oder nicht, Hochrisikogebiet und Quarantäne, die 17. Ministerpräsidentenkonferenz mit Beschlussvorlage, Impfpflicht oder nicht, wenn ja, wann und für wen, Ethikrat und Expertenrat, Leopoldina und Lockdown light, RKI, Drosten, Streeck und Kekulé, Dr. Melanie Brinkmann (nicht verwandt mit dem Chefarzt der „Schwarzwaldklinik“), Heerscharen von Intensivmedizinern, Inzidenz-Propheten, Infektiologen, Epidemiologen, Statistikprofessoren und Bundesärztekammerpräsidenten, Kassandras und Kubickis. Und über allem thront Karl Lauterbach, der den Refrain eines berühmten Liedes zu seiner persönlichen Wahrheit gemacht hat:

„Über sieben Brücken musst du gehen
Sieben dunkle Jahre überstehn
Sieben Mal wirst du die Asche sein
Aber einmal auch der helle Schein.“

Er hat es geschafft: Er ist Bundesgesundheitsminister geworden und laut „ARD-Deutschlandtrend“ der beliebteste Politiker des Landes – noch vor Bundeskanzler Scholz.

Doch jeder hat seine Schmerzgrenze. Bei mir war es letzte Woche soweit: Nach der dritten Corona-3G-Impfpflicht-Quarantäne-FFP2-Masken-Anmoderation der wie stets putzmunter aufgedrehten Moderatorin und dem nachhaltig zerknautschten, miesepetrigen Gesicht des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, habe ich, mit der Tasse Kaffee am Schreibtisch sitzend, wildentschlossen vom ARD-Morgenmagazin auf 3Sat umgeschaltet, wo sich unter folkloristisch-regionaltypischen Klängen jeden Morgen ein alpines Schneepanorama – vom Grödner Tal in Südtirol über Lech am Arlberg bis nach Oberstdorf im Allgäu – ans andere reiht.

Und das kleine Wunder geschah: Der beruhigende, heilende Effekt trat unmittelbar ein. Mir ging es gleich viel besser. Es wirkt: Augen-Yoga für die Seele.

Die herrlichen, weiß bedeckten Alpengipfel, über denen hier und da die Sonne aufgeht, erinnern die geplagten Zeitgenossen auch daran, dass es noch eine Welt jenseits von Corona gibt; dass das Leben, von dem die Italiener seit je behaupten, es sei „bella“, mehr ist als die Summe der Weltprobleme, die uns pausenlos serviert werden. Und siehe: Die Anziehungskraft des Vertrauten ist gewaltig, sie berührt tatsächlich den Grund der Menschenseele von Kindheit an – ob beim charismatischen „Bergdoktor“, den sich jeder als Hausarzt wünscht, oder den Bildern majestätischer Naturschönheiten, die manch einer schon auf Skiern im Tiefschnee durchquert hat.

Nicht ohne Grund setzt die melodramatische Fernsehserie auf den Wiedererkennungseffekt, auf Wiederholung, Traditionen, Rituale, vertraute Bilder aus vergangenen Tagen. Es ist ein bisschen so wie bei geliebten Urlaubs- und Lebensorten, die für Kindheit und Jugend prägend waren: Sie werden zu Archetypen glücklicher Augenblicke, in die man intuitiv immer wieder zurückstrebt.

Zwei Jahre Corona, von den anderen Großkatastrophen nicht zu reden, haben die Grundlagen des individuellen wie gesellschaftlichen Vertrauens erschüttert. Wohin man schaut: Unsicherheit, Risikofurcht, Streit, Zukunftsangst – eine Melange, die sich immer häufiger gewalttätig entlädt, auch wenn sich die Mehrheit noch zusammenreißt. Jürgen Habermas sprach in den achtziger Jahren von einer „neuen Unübersichtlichkeit“. Heute könnte man von einer „neuen Desorientierung“ reden, dessen politisches Opfer Nummer 1, dies nebenbei, die Christdemokraten sind. Sie wissen nun überhaupt nicht mehr, wer sie sind: „weltoffen“, aber ortlos.

Unbeschwerte Freude, gar Fröhlichkeit und Ausgelassenheit jedenfalls sind so selten geworden wie Humor und Ironie, die schon allein von der gendergerechten Korrektheit gnadenlos unter Beschuss genommen werden.

Das Rund-um-die-Uhr-Bombardement immer neuer Negativmeldungen erzeugt bei den einen Panik bis zur Hysterie, bei anderen eine aggressive, teils depressiv unterlegte Gleichgültigkeit, die sich bis zur wahllosen Menschenfeindlichkeit steigern kann. Selbst die Edeka-Kassiererin um die Ecke erzählt von immer mehr flegelhaftem Verhalten, offener Feindseligkeit bis zu körperlichen Attacken. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste können ein Lied davon singen.

Das, was Politiker phrasenhaft die „Spaltung der Gesellschaft“ nennen – oder, wie Kanzler Scholz, genauso phrasenhaft leugnen – besteht im Kern aus der wachsenden Kluft zwischen Teilen der Bevölkerung, ihren Sorgen, Wünschen und Alltagserfahrungen und der volkspädagogisch belehrenden Rhetorik der politisch-medialen Klasse.

Trotz aller abstrakten Appelle zum „Zusammenhalt der Gesellschaft“ fällt es der Politik schwer, mit jenen Gefühlen und Bedürfnissen der normalen Leute umzugehen, die der fiktive Bergdoktor ersatzweise und exemplarisch bedient: dort, wo man lebt, zu Hause zu sein, am richtigen Ort, umgeben von den richtigen Leuten in halbwegs überschaubaren sozialen Zusammenhängen, beachtet und respektiert von der politischen Führung des Landes, die im besten Fall noch eine glaubwürdige und akzeptierte Autorität verkörpert. Doch „Heimat“ gehört immer noch zum vergifteten Vokabular in Deutschland, auch wenn die Grünen hier und da versuchen, den einst als „reaktionär“, ja „faschistoid“ geltenden Begriff umzudeuten und für sich zu reklamieren.

Vernachlässigung der Gefühlslagen

Die sträfliche Vernachlässigung psychologischer und emotionaler Aspekte durch die offizielle Politik, die glaubt, immer nur noch mehr Milliarden „in die Hand nehmen“ zu müssen, um „sozialen Ausgleich“ zu schaffen, ist in Deutschland womöglich auch eine Folge des traumatischen Schocks aus der Epoche der Weimarer Republik: Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit, soziale Unruhen, Aufstieg der NSDAP – Hitler. Bis heute spielt die untergründige Angst eine Rolle, bei einer globalen Wirtschaftskrise, womöglich im Zusammenwirken mit Terrorattacken und dramatischen Veränderungen des Weltklimas, könnten die Dämme der Demokratie in Deutschland brechen. Die Corona-Pandemie kommt als Spaltpilz und Krisenbeschleuniger noch hinzu.

Doch gerade jetzt ist ein gebetsmühlenhafter Zeitgeistkanon von „Weltoffenheit“, „Nachhaltigkeit“ und „Diversität“, der sich mit deutscher Hypermoral und dem aggressiven Partikularismus immer neuer Minderheiten verbindet, der falsche Weg, die Gefahr zu bannen. Weltrettungsrhetorik und politische Korrektheit ersetzen nicht die Vertrauensbasis einer Volksnähe, auf die sich sogar ein Intellektueller wie Willy Brandt verstand – trotz seiner notorischen Unnahbarkeit.

So ist die Sehnsucht nach dem Bergdoktor nicht nur ein Indiz für die immer schon bestehende Neigung, sich wenigstens für ein paar Stunden aus dem Wahnsinn des Alltags zu verabschieden. Sie ist auch ein Warnzeichen für die Politik in Zeiten, da Sonntagsreden nicht mehr reichen – weder auf der Basis von 1G, 2G, 2G plus noch 3G.

Leider macht das politische Spitzenpersonal, von dem so gar keine persönliche Überzeugungskraft ausgeht, weder Charisma noch belastbare Glaubwürdigkeit, wenig Hoffnung. In dieser Hinsicht hat es der Bergdoktor leichter: Ihm werden die guten Geschichten auf den Leib geschrieben.

• Reinhard Mohr war von 1996 bis 2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Zuletzt erschien „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag 2021).
www.europa-verlag.com


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Kommentare

sitra achra am 13.01.22, 11:13 Uhr

Sie meinen, sie hätten alles im Griff, doch sie befinden sich selbst im Würgegriff des Teufels. Die Bürger mit faschistischen Bergkitschsendungen zu sedieren, zeitigt keinen Erfolg. Der scharfe Kontrast zur täglichen Realität wird die Apathie und Lustlosigkeit der Systemsklaven nur noch steigern,mit allen sozialen Folgeschäden, die diese nach sich führen. Die falsche Demokratie wird nicht von außen erledigt durch Rechtsradikale-woher nehmen?-, sondern sie wird letztendlich implodieren. Der "Kampf gegen Rechts" ist eine reine Donquichotterie, eine unfreiwillige Spiegelung des eigenen schwarzen Gewissens.
Der Mohr hat noch lange nicht seine Schuldigkeit getan. Chapeau für diesen Artikel!

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