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Saubere Straßen, pünktliche Bahnen und organisiertes Chaos – Kontrastreicher als in Japans Hauptstadt kann es kaum zugehen
Auf einmal steht man mittendrin und wird zum unfreiwilligen Internetstar. Sobald die Ampel auf Grün springt, ist es wie ein olympischer Startschuss: Sofort werden die Smartphones in die Höhe gerückt und die Handykameras ausgelöst. So oft fotografiert und gefilmt wird man selten. Es ist ein Spektakel, vor allem abends, wenn von den umliegenden Hochhäusern die Leuchtreklame strahlt. Aus allen Richtungen strömen bis zu 1000 Menschen gleichzeitig über die Kreuzung.
Viele laufen diagonal zur anderen Seite. Wenn sie sich in der Mitte treffen, ist es, als würden sie sich verknoten. Ausweichen ist angesagt, vor allem auch davor, aufgespießt zu werden. Fast jede Frau trägt einen dieser mörderischen Schirme, entweder um sich vor ein paar Sonnenstrahlen oder vor einigen wenigen Regentropfen zu schützen.
Kaum in Tokio angekommen, befindet sich der orientierungslose Europäer an einem der verkehrsreichsten Knotenpunkte der Welt: der Shibuya Crossing. An dieser Kreuzung hat man als Fußgänger knapp zwei Minuten Zeit, um die andere Straßenseite zu erreichen, ehe in diesem organisierten Chaos die Ampeln auf rot schalten und dieser Nabel der Welt wieder allein den Autofahrern gehört.
Eben noch einsam zwischen Feld und Wiesen unterwegs und jetzt inmitten dieses Gewusels: Es scheint, als wäre man per Zukunftstechnologie in eine andere Welt teleportiert worden. In gewisser Weise trifft das zu. Nur dass der Ortswechsel 14 Stunden gedauert hat. So lange dauert der Direktflug ab London. Man reiht sich damit in einen Trend ein: Nach der Pandemie haben die Deutschen wieder Lust auf Fernreisen. Etwas Flugscham wegen des Klimas ist inbegriffen. Reden uns nicht die „Klimaschützer“ deswegen ein schlechtes Gewissen ein? Entschädigt wird man mit einem Flug über Grönland und das – auch im Hochsommer weiterhin stark vereiste – Nordpolarmeer. Putin sei Dank, denn seit Beginn des Ukrainekriegs ist der schnellere Weg über Sibirien für westliche Fluggesellschaften tabu.
Tokio also, und gleich mittendrin in dieser 14-Millionen-Stadt. Deren Metropolregion ist mit knapp 40 Millionen Einwohnern sogar eine der größten der Welt. In dieser urbanen Welt gehen unter anderem die Millionenstädte Tokio, Yokohama, Kawasaki und Saitama unmittelbar ineinander über. Schaut man auf die Menschenmassen, so scheint sich im Tokioter Bezirk Shibuya alles zu versammeln. Hier läuft uns vor dem Bahnhof erst Hachikō über den Weg. Oder genauer: wir ihm. Denn es handelt sich um eine Bronzestatue jenes treuen Hundes, der sogar dann vor dem belebten Bahnhof auf die Rückkehr seines Herrchens von der Arbeit gewartet hat, bis Letzterer eines Tages starb. Basierend auf einen japanischen Film von 1987 hat sogar Hollywood diese rührende Story im Jahr 2009 verfilmt.
Und dann läuft uns Junko über den Weg. Dem Himmel sei Dank nicht aus Bronze, sondern eine leibhaftige Japanerin mit unfassbaren Ortskenntnissen. Sie kennt die Schleichwege, die durch winkelige Tunnelsysteme, langen Rolltreppenwegen, vielen Überführungen und Einkaufspassagen aus diesem Labyrinth herausführen. „Das war nur der Anfang“, sagt sie, „auf Sie wird in den nächsten Tagen noch einiges zukommen.“
Das klingt wie eine freundliche Drohung. Zum Dank laden wir sie erst einmal auf ein Getränk ein. Hier trinken die meisten entweder Eiskaffee oder Tee. „Ocha“, grüner Tee, ist als Kaltgetränk so etwas wie der nationale Durstlöscher und schmeckt, na, sagen wir, gewöhnungsbedürftig. An andere Sitten kann man sich dagegen gerne gewöhnen. Als die Rechnung kommt und der unkundige Tourist etwas Trinkgeld auf dem Tisch legt, eilt ihm die Bedienung hinterher: „Sumimasen [Verzeihung], Sie haben das Geld hier liegenlassen.“ Weil niemand Trinkgeld annimmt, summieren sich am Ende die in den Taschen angesammelten Geldstücke zu einem ballastreichen Minischatz im Wert von 1000 Yen, deren gegenwärtiger Umtauschwert bei sechs Euro liegen.
Dabei wäre man kurz nach Verlassen des Teehauses gleich ins nächste Fettnäpfchen getappt. Mal eben eine kleine Wegzehrung mitnehmen, um sich unterwegs für die nächste Sehenswürdigkeit zu stärken, ist – wahrlich – mit Vorsicht zu genießen. Kein Japaner isst im Gehen, vielleicht ist das mit ein Grund, warum diese Metropole so sauber wirkt. Kein Gestank, keine Wandschmierereien, und nirgends liegt Müll herum, obwohl es kaum noch öffentliche Abfallkörbe gibt. „Aus Sicherheitsgründen“, wie Junko erklärt. Seit den Anschlägen von New York sind auch hier die Terrorängste gewachsen.
Ja, die Sicherheit wird hier auch im Kleinen großgeschrieben. Das erlebt der Fußgänger kurz hinter der Shibuya-Kreuzung, als ein Auto aus einer Tiefgarage fahren möchte. Zwei uniformierte Pförtner halten mit Leuchtstäben in der Hand die Passanten auf, damit das Fahrzeug sicher die Straße erreichen kann. Hinterher verbeugen sie sich höflich für die Geduld der Wartenden. Sie tun den ganzen Tag nichts anderes, als unter heißer Sonne oder bei Regen Fahrzeuge an den Fußgängern vorbeizulotsen. Wäre man sich in Deutschland für einen solchen, zwangsläufig mit Niedriglohn bedachten Service nicht zu schade, hätte man wohl eine ähnlich geringe Arbeitslosenquote von zweieinhalb Prozent wie in Japan.
Unweit von der Ausfahrt stehen Massen von Menschen geduldig Schlange vor einem Kleidungsgeschäft. „Das passiert öfter“, sagt Junko, „hier wird wohl ein neues Anime-Produkt vor dem offiziellen Verkaufsstart angeboten.“ Die jungen Fans japanischer Zeichentrickfilme erkennt man schon von Weitem an ihrer phantasievollen Cosplay-Verkleidung.
Kuscheln mit Minischweinchen
Doch nur wenige hundert Meter weiter herrscht plötzlich Ruhe. Wir haben einen dieser grünen Erholungsoasen erreicht, in denen man mal durchatmen kann. Vorerst, denn am Abend findet im südlichen Teil des Yoyogi-Parks ein großes Musikfestival statt, zu dem dann Tausende strömen werden. Der größere nördliche Parkteil bleibt davon unberührt. Hier liegt der Meiji-Schrein, der nach dem Tod eines Tennos vor etwas über 100 Jahren eingeweiht wurde und um den herum ein ganzer Wald gepflanzt wurde.
Bevor wir den Shintō-Schrein erreichen, weiht uns Junko in die Riten ein, die auch Ausländer befolgen sollten: Um sauber vor den Schrein zu treten, wäscht man sich vor dem Schrein an einer Wasserstelle die Hände, benetzt den Mund mit Wasser und wäscht sich danach erneut die Hände. Am Schrein selbst verbeugt man sich zweimal, klatscht dann zweimal in die Hände, macht ein kurzes Gebet mit aneinanderliegenden Händen und verbeugt sich zum Schluss ein letztes Mal.
Was Religion angeht, sind die Japaner recht flexibel. Neben dem Shintoismus, der eher ein Naturglaube ist, befolgen die meisten parallel auch den Buddhismus, vor allem wenn man der Verstorbenen gedenkt. Tage später werden wir im Bezirk Asakusa den buddhistischen Sensō-ji-Tempel besuchen. Er ist der älteste und bedeutendste Tempel Tokios und geht bis ins frühe Mittelalter zurück. Anders als beim ruhig gelegenen Meiji-Schrein führt eine trubelige Verkaufsstraße mit Souvenir- und Imbissbuden zum Sensō-ji-Tempel. Wenn ein religiöses Fest ansteht – und das passiert oft –, stehen sich hier alle gegenseitig auf den Füßen.
Dass man hier auch weltliche Dinge nur allzu gerne anbetet, ist kaum nach dem Verlassen des Yoyogi-Parks zu erleben: Die nahe Fußgängerstraße Takeshita-Dori ist auch an diesem gewöhnlichen Wochentag voll mit Teenagern, die in den Geschäften Ausschau nach neuen Manga-Figuren oder -kostümen halten. Andere gehen in Geschäfte, in denen sie die Gesellschaft von Minischweinen, Katzen, Hunden, ja, sogar Fischottern suchen. Tierschützer sollten sich hier besser fernhalten. Man würde sie verprügeln.
Die Prachtstraße Omotesando bietet kurz darauf den nächsten Kontrast: feine Luxusgeschäfte, wohin das Auge blickt. In Tokio ist sie nicht die einzige dieser Art, wie wir in Ginza erleben werden. Dieses Viertel ist eines der ältesten Zentren der Stadt. Der Kaiserpalast, das recht trostlose Büroviertel mit seinen Wolkenkratzern und der Tokioter Bahnhof, von dem die ultraschnellen Shinkansen-Züge abfahren, liegen nicht fern. Doch rund um die Ginza-Straße gibt es kein Entkommen vor dem Konsumrausch. Schuld sind große Edelkaufhäuser, in denen gern Ausländer, allen voran Chinesen, shoppen gehen.
An anderen Orten der Stadt erstrecken sich Einkaufszentren über 19 oder mehr Stockwerke. Wer denkt, in den Etagen würde gähnende Leere herrschen, irrt gewaltig. „Nein, Junko, solche Dimensionen sind wir in Europa nicht gewohnt.“
Neun U-Bahnstationen liegt Ginza von Shibuya entfernt. Gut, dass es mit der Ginza-Line eine direkte Verbindung gibt. Im ansonsten verknoteten Liniennetz der Tokioter U-Bahnen mit ihren verschiedenen Tarifen verliert man sonst leicht den Überblick. Aber auch hier helfen bei Problemen in jeder Station Mitarbeiter weiter. Solchen Luxusservice kann sich keine deutsche Stadt mehr leisten.
Und wie sauber und leise es in diesen ständig vollen U-Bahnen ist, obwohl sie pünktlich alle zwei bis drei Minute fahren! Keine Graffiti, keine um Geld bettelnden Musikanten und keine lauten Gespräche am Handy – per Durchsage wird darum gebeten, das Smartphone im Flugmodus zu halten. Und die disziplinierten Japaner halten sich genauso daran, wie auf den Rolltreppen die rechte Seite – in Japan herrscht Linksverkehr – für fitte Treppensteiger freizuhalten. Na klar, nur der ahnungslose Europäer blockiert wieder einmal die freie Seite der Rolltreppe.
Irgendwie hat uns Junko durch diesen U-Bahndschungel zu einer fahrerlosen Monorail geführt, die nach Odaiba führt. „Diesen modernen Stadtteil am Hafen hat man durch Sandaufschüttung dem Meer abgerungen“, erklärt Junko. Frühaufsteher können hier um 5 Uhr morgens im Toyoso-Fischmarkt die legendäre Thunfischauktion miterleben und sich anschließend in einem der nahen Restaurants frischen Thunfisch servieren lassen.
Früher fand die Auktion noch auf dem Tsukiji-Fischmarkt unweit von Ginza statt. Weil der Platz nicht mehr ausreichte, verlegte man ihn auf die künstliche Insel. In Tsukiji verblieben aber noch viele günstige Restaurants und Geschäfte.
Wir aber wollen etwas erleben. Und so machen wir uns über das U-Bahn-Gewirr auf nach Shinjuku, einem der anderen Zentren fern von Ginza. In dem Bezirk liegt auch das Stadion, in dem vor Paris die letzten Olympischen Spiele stattfanden, damals pandememiebedingt um ein Jahr verschoben ins Jahr 2021 und fast ohne Zuschauer. Jetzt ist das Viertel rund um den Bahnhof wieder zum Leben erweckt. Im Amüsierviertel ist hier abends der Teufel los. Nebenan regiert die gerade wiedergewählte Bürgermeisterin im Metropolitan-Gebäude, von wo man bei freiem Eintritt aus 200 Metern Höhe einen Rundblick auf Tokio und – bei guter Sicht – auf den Berg Fuji genießen kann.
Rastlos geht es weiter zum nächsten Tokioter Zentrum. Nach Ueno zum Beispiel mit seinem für seine Kirschblüten, dem Zoo, einem See und Museen bekannten Park, aber auch mit der von hungrigen Restaurantbesuchern prallvollen Fußgängerzone Ameyoko. Fährt man weiter in das von den technikbegeisterten Japanern geliebte „Elektroviertel“ von Akihabara, ergibt sich das gleiche Bild. Man glaubt, dieselben Menschenmassen, die sich hier von jungen Mädchen im Manga-Kostümen zum Eintritt in eines der Elektro- oder Modellwarengeschäfte animieren lassen, wären einem heimlich aus Ginza, Ueno, Shibuya oder Shinjuku gefolgt.
Ach, Junko, wie groß und großartig doch deine Stadt ist! Im Vergleich dazu sind Berlin, München oder Hamburg die reinsten Dörfer. Wir müssen demnächst an dieser Stelle mehr davon berichten.
Reise und Hotelauskünfte (auf Japanisch und Englisch): www.tcvb.or.jp/en