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Thüringens mittelalterliche Burgen locken mit Skywalk, Whiskyverkostung, weichen Betten und der kleinsten Kaffeekanne der Welt – Eine Reise von Zinne zu Zinne
Noch ein Schritt weiter auf dem Skywalk hoch über dem Abgrund, und prompt stellt sich ein Gefühl ein wie früher auf dem Zehn-Meter-Brett. Nur dass der mutige Wolkengänger nicht springen muss, sondern einen weißen Porzellanteller in die Luft wirft, der zuvor mit Zaubertinte und einem Herzenswunsch beschrieben wurde. Im hohen Bogen fliegt das zerbrechliche Geschoss über die Brüstung und zerschellt auf den Felsen. Wetten, dass der Wunsch in Erfüllung geht? Scherben bringen Glück!
Burgen, in denen der Wind durch leere Fensterhöhlen pfeift und Raben um Bergfriede flattern, mag es immer noch geben, auch in Thüringen, dem grünen Herzen Deutschlands, das mit seinen 450 Burgen und Burgruinen reich beschenkt ist. Aber viel eher wartet hinterm Burgtor eine Überraschung. So wie auf der Leuchtenburg, wo das Klirren der Teller bis in den gepflasterten Burghof zu hören ist. An den Mauern wuchert Efeu, dazwischen hängen Kaffeekannen im Geäst und liegen in Blumenkübeln. Sie verwandeln die Ziegelwände zu nostalgischen Kunstwerken und setzen das Thema: Die Leuchtenburg birgt in ihrem Inneren eine spektakuläre Porzellanausstellung.
Aber damit nicht genug: Wer gewohnt ist, an Vitrinen vorbeizugehen und kleingedruckte Erläuterungen zu lesen, darf umdenken. In den Ausstellungsräumen geht es interaktiv zu, das heißt, die Exponate reagieren auf Impulse. Steht der Besucher etwa vor dem Bild eines Mannes mit Filzkappe und Ringen am Finger, rollt der Porträtierte urplötzlich mit den Augen, eine Flöte beginnt zu spielen und ein Seepferdchen aus Porzellan bewegt sich wie in heftigem Wellengang.
Noch nicht genug gestaunt? Dann bitte einen Raum weiter: Hier steht mit acht Metern Höhe die größte Vase, daneben die kleinste Kanne der Welt, millimetergroß, nur durch eine Lupe zu erkennen. In einem anderen Raum wird die lange Reise des Porzellans von China bis nach Deutschland beschrieben, und wer nach dem Rundgang auf der Terrasse der Burgschänke sitzt, genießt den weiten Blick.
Überhaupt, diese Blicke! Diese Ruhe! Was im Mittelalter zur Abwehr und Verteidigung diente – die Alleinlage, die Mühsal des Anstiegs, Burggraben und Zugbrücke – ist heute ein touristischer Schatz. Das Auge schweift über ein Meer aus Baumwipfeln, und die Wege von einer Zinne zur nächsten sind nicht weit.
An der Landesgrenze zu Bayern wartet die Veste Heldburg. Früher ein Kinderheim, residiert hier das erste deutsche Burgenmuseum mit Schauräumen zum Staunen und Lernen. Es stimmt nicht, wie erzählt wird, dass Ritter Kunibert und seine Kampfgenossen einen Kran benötigten, um ihre Pferde zu besteigen. An lebensechten Ritterfiguren wird bewiesen: Geflochtene Gamaschen und Rüstungen waren so beweglich, dass sich die gepanzerten Krieger frei bewegen konnten.
Weiter geht es in die Landeshauptstadt Erfurt, hinauf auf die Zitadelle Petersberg. Von hier fliegt der Blick bis zu den Kirchtürmen unten in der Stadt und bleibt in einem Weinberg hängen, wo bei gutem Wetter die Gläser klingen. Die Vergangenheit mag düster gewesen sein, auch auf dem Petersberg, einer Hochburg der Stasi. Heute noch kann man Aktenberge im Unterlagenarchiv besichtigen.
Zum diskreten Ausspähen dienten schon viele Jahrhunderte früher die „Horchgänge“ tief im Mauerwerk der Zitadelle, in denen das Herannahen von Feinden abgehört wurde. Die Zeiten haben sich geändert. In der umgewidmeten Peterskirche gibt es wechselnde Ausstellungen, das Hotel Kehrs inmitten der Festungsmauern ist derart modern, dass Gäste an der Rezeption auftauchen, um sich die technisch ausgefuchste Beleuchtung der Zimmer erläutern zu lassen.
Kulisse für den Film „Der Medicus“
Nächster Stopp ist Burg Scharfenstein, wo das Mittelalter nur noch an der Dicke der Mauern festzumachen ist. Ein großer Parkplatz weist auf regen Besucherverkehr hin, und genau das ist gewünscht: In der Bar wird erlesener Malt-Whisky der Marke „The nine springs“ ausgeschenkt, Whiskyverkostungen sind die Attraktion der Region.
Das hätten sich die Rittersleut nicht träumen lassen, dass hier Hochprozentiges gebrannt wird. Ein Boutique-Hotel im modernen Anbau mag Mittelalter-Fans verwirren, aber das Essen ist vorzüglich, die Betten sind weich, es ist unfassbar ruhig, und dann, mal wieder: dieser Blick!
Ein Höhepunkt jeder Burgentour ist die Wartburg bei Eisenach, wo Geschichte in jedem Mauerspalt nistet. Von der heiligen Elisabeth, die im frühen 13. Jahrhundert den Armen half, bis zum Sängerkrieg, der Richard Wagner zu seiner Oper „Tannhäuser“ inspirierte – alles ist in Gemälden und Schriften dokumentiert. Dabei wollen die meisten Besucher doch nur die berühmte Studierstube sehen, in der Martin Luther von Mai 1521 bis März 1522 die Bibel übersetzte. Ein alter Schreibtisch, ein Stuhl, ein Schemel aus Walfischknochen erinnern an den Kirchenrebellen. Und was ist mit dem berühmten Tintenfleck an der Wand? Angeblich sei dieser entstanden, als Luther mit dem Tintenfass auf den Teufel zielte, der ihn bei seinem aufklärerischen Werk zu stören versuchte. Doch er ist abgetragen von Andenkenjägern, die sich von der Absperrung nicht abschrecken ließen. Vielleicht hatten die guten Geister der Burg auch einfach keine Lust mehr, ihn wieder und wieder nachzumalen.
Das Hotel auf der Wartburg ist leider bis auf Weiteres geschlossen, die Möblierung im Burg-Restaurant recht karg, auch die Esel, die Kinder einst nach oben trugen, wurden abgeschafft. Dafür gibt es einen Pendelservice, der genau da stoppt, wo der Blick aufs Burgmotiv besonders malerisch ist.
Im Vergleich zur Wartburg ist die Burgruine Hanstein ein Geheimtipp. Ritter Clemens von der Eichsfelder Ritterschaft wartet schon am Eingangstor, perfekt kostümiert mit Tunika, Geldkatze am Gürtel und Schwert in der Hand. Er steht für all die Burgliebhaber, die nicht tatenlos zusehen mochten, wie die Geschichte des Landes verfiel. Ein Verein rettete die Ruine. Seit 1990 befindet sich die Burg im Besitz der Gemeinde Eichsfeld.
Stolz führt Clemens die Besucher über das Areal, das einst Kulisse für den Historienfilm „Der Medicus“ war. Er stapft über die hölzerne Brücke in den Burghof, zeigt den Festsaal, wo heute wieder Paare getraut werden, und schwärmt von den Festen auf der Burg. Heute ist es still auf Hanstein. In einem Seitenturm krächzt tatsächlich ein Rabe, der Blick geht weit übers Land, und fast könnte man ins Träumen geraten: von Burgfräulein, edlen Rittern, von Festgelagen und Minnesang.