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Verfassungsgericht watscht Berliner Landesregierung ab

Zu wenig Wahlkabinen und Stimmzettel, zu viel Chaos in der Durchführung

Klaus Gröbig
29.09.2022

Der Andrang war riesig. Für den gestrigen Mittwoch, den 28. September 2022, hatte der Berliner Verfassungsgerichtshof zu einem Termin geladen, um eine vorläufige Einschätzung zu den zahlreichen Einsprüchen gegen die Berliner Abgeordnetenhauswahl im vergangenen Jahr abzugeben. Um dem erwarteten Ansturm Rechnung zu tragen, hatte das Gericht die Verhandlung eigens vom Gerichtssaal in einen Dahlemer Universitätshörsaal verlegt, der etwa 500 Zuhörern Platz bot.

Verhandelt wurden zunächst nur vier von insgesamt 35 Einsprüchen. Nach einer relativ knappen Berichterstattung über die Erhebung der Fakten kam die Präsidentin Ludgera Selting zu einer „ersten Einschätzung“ ihrerseits. Und die hatte es in sich. Die Wahlen seien nicht nur in Teilbereichen fehlerhaft und zu wiederholen, sondern dies treffe auf die ganze Wahl zu. Es folgte eine ausführliche Begründung.

Schon die Vorbereitung der Wahl, so Selting, war unzureichend. So hätte es die Aufstellung von nur zwei Wahlkabinen in den Wahllokalen bei 800 bis 1.500 Wahlberechtigten je Stimmbezirk vielen Bürgern unmöglich gemacht, ihr Wahlrecht auszuüben. Dass die Wahllokale zudem mit einer erkennbar zu geringen Anzahl an Stimmzetteln ausgestattet gewesen seien, sei ein zweiter irreparabler Fehler gewesen: „Die Landeswahlleitung und die Senatsinnenverwaltung sind ihrer Kontrollpflicht nicht nachgekommen“. In einigen Wahllokalen wurden falsche Stimmzettel ausgegeben, in Kreuzberg-Friedrichshain wurden mehr als tausend Wahlzettel kopiert und an Wahlberechtigte ausgeteilt. Diese Stimmen hätten nicht gezählt werden dürfen, beklagte das Gericht.

Gegen die rechtlichen Bestimmungen verstieß auch, dass in zahlreichen Wahllokalen noch nach 18.00 Uhr abgestimmt werden konnte. Da zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Hochrechnungen über die TV-Bildschirme flimmerten, habe dies Wähler in ihrer Stimmabgabe unzulässig beeinflussen können.

Angesichts der Vielzahl an Verstößen und des engen Wahlausgangs sieht das Gericht die Mängel als „mandatsrelevant“, das heißt: für den Ausgang der gesamten Wahl von Bedeutung, an. Deshalb könne nur durch eine komplette Wahlwiederholung ein verfassungskonformer Zustand herbeigeführt werden. Die Klarheit der Ausführungen der Gerichtspräsidentin sorgte für große Aufregung im Gerichtssaal.

Nach einer Pause hatte die amtierende Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann das Wort. Sie wies darauf hin, dass sie selbst die Wahl wegen der festgestellten Mängel angefochten habe, diese letztendlich jedoch nicht als „mandatsrelevant“ ansieht. Eine Wahlwiederholung könne es ihrer Meinung nach nur bei den Erststimmen in zwei Wahlkreisen geben. Da sie als Wahlbeobachterin schon viele Jahre international im Einsatz gewesen sei, hätte sie auf diesem Gebiet große Erfahrung.

Auch der Staatssekretär des Innensenators räumte Fehler im Ablauf der Wahl ein, führte jedoch aus, dass es seiner Meinung nach eine Wahlwiederholung nur in etwa 200 Stimmbezirken geben könne. In den übrigen der über 2.700 Stimmbezirke sei der Wahlvorgang beanstandungslos gelaufen. Die Aufstellung von nur zwei Wahlkabinen sei wegen der Corona-Seuche erforderlich gewesen.

Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Dennis Buchner, und sein Rechtsvertreter beklagten sich indes darüber, dass ein Gericht und nicht das Parlament über die Wahlanfechtung entscheiden würde. Immerhin vertrat die Gerichtspräsidentin Ludgera Selting die Auffassung, dass das fehlerhaft gewählte Parlament weiter tagen und auch Beschlüsse fassen könne.

Kläger Marcel Luthe (früher FDP, nun Freie Wähler) zeigte sich mit dem zu erwartenden Urteil zufrieden. Nach der Verhandlung haben die Richter laut Gesetz drei Monate Zeit für ein Urteil. Sollte das Urteil wie erwartet ausfallen, müssen innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen erfolgen – voraussichtlich also im Februar oder März.

Lesen Sie hierzu auch den Kommentar der PAZ-Redaktion.


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