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Die Folgen der Seuchen für die Menschheit betreffen neben dem Feld der Religion auch viele weltliche Bereiche
Pandemien und Epidemien haben der Menschheit immer wieder nachhaltige Veränderungen beschert. So verursachte die „Mutter aller Pestbakterienstämme“ bereits vor fünftausend Jahren ein dramatisches Massensterben in Europa. Danach strömten Nomaden aus Asien nach Westen und brachten ihre Kulturtechniken und domestizierten Pferde mit auf den europäischen Kontinent. Später tauchten im Zuge der Intensivierung des Fernhandels und der Verstädterung weitere tödliche Infektionskrankheiten auf. Durch diese Seuchenwellen kollabierten zahlreiche Imperien, und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung ganzer Kontinente erfuhr massive Wandlungen.
Wanderung aus Asien nach Europa
Aus all dem resultierten zwar auch Veränderungen von Alltagssitten und -gebräuchen, doch fielen die diesbezüglichen Effekte letztlich eher gering aus. Denn wie in der derzeitigen Corona-Krise kam es regelmäßig zu einer psychischen Ermüdung und Abstumpfung der Menschen, und sie hielten am Althergebrachten fest. Das galt besonders für die Zeiten, in denen noch keine brauchbaren Erkenntnisse über die Krankheitsursachen vorlagen und die Seuchen irgendwann ohne bewusstes menschliches Zutun verschwanden. Je weniger die Menschen über das Funktionieren von Krankheiten wussten und die dahinterstehenden Mechanismen begriffen, desto weniger waren sie in der Lage, Lehren und Konsequenzen daraus zu ziehen.
Suche nach einem Sündenbock
Was sich – und zwar nicht erst anlässlich des Auftretens des „Schwarzen Todes“ im 14. Jahrhundert – durchsetzte, waren geradezu modern anmutende Maßnahmen zur Quarantäne und zur Isolierung der Kranken. Ebenso führten Epidemien und Pandemien zu einer gewissen Verbesserung der sanitären beziehungsweise hygienischen Verhältnisse, insbesondere dort, wo viele Menschen auf engem Raum lebten. Allerdings zeitigte das erst in der Neuzeit nennenswerte positive Effekte, nachdem Bakterien und Viren als Krankheitsüberträger entlarvt worden waren. Die Erkenntnis, dass Licht, Luft und Sonne sowie sauberes Wasser und funktionstüchtige Kanalisationen wichtige Säulen der Seuchenprävention sind, beeinflusste dann aber sogar die Stadtplanung und architektonische Stile.
Desgleichen stieß die Kette der permanent auftretenden verheerenden Infektionskrankheiten Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der Medizin an. So gab Papst Clemens VI. 1348 grünes Licht für die Obduktion von Pestopfern. Damit ermöglichte er neuartige Formen der Beschäftigung mit dem menschlichen Körper und den Mechanismen der Krankheitsentstehung.
Ansonsten sorgten Pandemien und Epidemien stets auch für einen Mentalitätswandel, der weit stärker ausfiel als die Veränderungen von Alltagssitten oder Hygieneregeln. Insbesondere wuchs der Hass auf gesellschaftliche Randgruppen, denen man die Schuld für die Verbreitung der Krankheiten gab. Im Mittelalter waren dies vor allem die Juden, und später dann oft Prostituierte oder Homosexuelle wie während der pandemischen HIV-Verbreitung seit den 1980er Jahren. Die Mechanismen sind heute noch die gleichen, nur dass im Falle von Corona AfD-Wähler oder Querdenker als starke Krankheitsverbreiter gelten, denen entschieden Einhalt geboten werden müsse.
Tanz auf dem Vulkan
Darüber hinaus führten Seuchenwellen oft zu flammenden Aufrufen, sich zu mäßigen, auf „frivole Genüsse“ zu verzichten und „gottesfürchtiger“ beziehungsweise asketischer zu leben, denn der „schwache“ Mensch mit seiner „Völlerei“ und seinem „zügellosen Treiben“ oder gar „widernatürlichen Neigungen“ galt als Verursacher der ganzen Misere. Das freilich fruchtete nicht bei jedem. Viele entwickelten taube Ohren für die Botschaften von Religionen und Ideologien, und taten dann aus Fatalismus das genaue Gegenteil von dem, was verlangt wurde. Statt zu büßen und zu verzichten, ließen sie es sich gutgehen oder feierten gar wüste Gelage, denn schließlich konnte jeder Tag ihr letzter sein.
Konzentration von Reichtum
Dieser Tanz auf dem Vulkan bewirkte eine gewisse Erosion der weltlichen Macht. Angesichts des drohenden Todes fürchteten die Leute diesen mehr als die Staatsgewalt. Die reagierte hierauf mit autoritären Maßnahmen. Oder wie es der Hamburger Medizinhistoriker Philipp Osten ausdrückte: „Eine Pandemie erhöht die Präsenz der Ordnungsmacht.“ So führte Bayern 1807 als erster Staat der Welt die Impfpflicht ein, als ein Vakzin gegen die Pocken zur Verfügung stand. Zur systematischen Durchsetzung dieser Pflicht erstellten Amtsärzte anhand der Taufregister der Kirchen Impflisten, die dann später als Basis für Einwohnermelderegister dienten. Somit ermöglichte die Krankheit eine deutlich intensivere und effektivere Kontrolle der Untertanen.
Das waren aber nicht die einzigen Veränderungen, die bis heute nachwirken. Seuchen mit hohen Mortalitätsraten sorgten auch für eine Konzentration von Reichtum durch Vererbung. Diese wiederum brachte unter anderem das frühneuzeitliche Mäzenatentum hervor. Der Aufschwung von Kunst, Kultur und Wissenschaft zur Zeit der Renaissance resultierte ganz maßgeblich daraus, dass so mancher Überlebende nach dem Wüten des „Schwarzen Todes“ nun sowohl über reichlich Geld verfügte als auch den Wunsch hegte, sich auf irgendeine säkulare Weise „unsterblich“ zu machen.
Rationalisierungsdruck
Des Weiteren stimulierten Seuchen technische Innovationen. Wenn zu viele Menschen das Zeitliche segneten, führte das zwangsläufig zu Personalmangel und somit auch zu höheren Löhnen. Daher mussten nach den mittelalterlichen Pestwellen manuelle Arbeiten wie beispielsweise in der Landwirtschaft oder beim Kopieren von Schriften mechanisiert werden, um die Kosten zu senken. Und so entstanden dann Erntemaschinen und das Buchdruckverfahren.
Die weitreichendste Wirkung entfalteten frühere Pandemien freilich auf dem Gebiet der Religion. Ohne die Cyprianische Pest, die das Imperium Romanum in den Jahren zwischen 250 und 270 erschütterte, wäre das Vertrauen in die alten Götter nicht ins Bodenlose gefallen. Das wiederum verhalf dem bis dahin hart bedrängten Christentum zu einem unerwarteten Aufschwung. Und den rasanten Siegeszug des Islam im Mittelmeerraum sowie dem Nahen und Mittleren Osten hätte niemals gegeben, wenn nicht der wichtigste Gegenspieler der Araber, das Byzantinische Reich, zwischen 542 und 770 von der Justinianischen Pest heimgesucht worden wäre.