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PAZ-Spezial 75 Jahre Kriegsende

Eine Niederlage, kein Sieg

Bei der Deutung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs geht eine Perspektive zumeist unter – das Schicksal der von der Sowjetunion besetzten Länder. Was für die Bolschewisten ein Sieg war, wurde für Polen und andere zur abermaligen Katastrophe

Piotr Zychowicz
08.05.2020

Am 9. Mai sollte wieder dieselbe Vorstellung wie in jedem Jahr stattfinden. Doch das Corona-Virus hat vorerst Wladimir Putins Pläne durchkreuzt, sodass er seine Show zur Feier des Sieges über Deutschland absagen musste. Deshalb werden – vorerst – keine Soldaten in Uniformen der Roten Armee in ihren Stiefeln über das Pflaster poltern, und Moskau wird nicht mit Hammer-und-Sichel-Fahnen sowie mit Stalinporträts geschmückt. Doch später wollen Putin und seine Freunde die Parade nachholen und den „sowjetischen Sieg über den Faschismus“ feiern. 

Kein Grund zum Jubel 

Polen teilt diese Freude nicht. Was für die Bolschewisten ein Sieg war, stellte für Polen eine entsetzliche Niederlage dar. Vielleicht sogar eine schmerzlichere als die Niederlage Deutschlands. Beim Anblick der Rotarmisten sehen die Polen keine „Befreier“, sondern Besatzer. Vor unseren Augen erscheinen: 

• der Überfall am 17. September 1939, als die Sowjetunion das im Krieg mit Deutschland blutende Polen von hinten angriff 
• die Besetzung halb Polens durch die Bolschewisten von 1939 bis 1941 
• die Deportation von 350.000 Polen nach Sibirien und Kasachstan 
• das Massaker von Katyń 1940, als der NKWD 22.000 polnische Offiziere und andere Vertreter der Elite hinrichtete 
• bolschewistische Verbrechen an Gefangenen, zu denen es 1941 nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges kam 
• Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle, die den Einmarsch der Roten Armee nach Polen in den Jahren 1944 und 1945 begleiteten 
• die Wegnahme des halben polnischen Staatsgebiets mit unseren zwei geliebten Städten Wilno/Wilna und Lwów/Lemberg
• die Besetzung Polens und Einsetzung eines marionettenhaften kommunistischen Regimes, das bis 1989 regierte. 

Der Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs ist für Polen ein trauriger Anlass. Wir können uns darüber nicht freuen. Polen büßte durch den Krieg die Hälfte seines Staatsgebiets und seine Unabhängigkeit ein. Unsere Hauptstadt wurde während des Warschauer Aufstands zerstört, wir verloren einige Millionen Menschen, darunter einen erheblichen Teil der Elite. Sie wurden Opfer deutscher, sowjetischer und ukrainischer Verbrechen. 

Die Polen betrachten also die Geschichte des Zweiten Weltkriegs gänzlich anders als das Regime Putins, der seine „historische Politik“ auf Thesen der sowjetischen Propaganda stützt. Er versucht, die Identität der jetzigen Russen auf dem Mythos „des Großen Vaterländischen Kriegs“ und der „Befreiung“ Europas von Hitlers Unterjochung aufzubauen. Diese grundsätzlich verschiedene Beurteilung der Vergangenheit führt natürlich zu Spannungen. Die Geschichte wird zu einem der Konfliktherde zwischen Polen und Russland. 

Demontagen von Denkmälern 

Ein Anzeichen dafür ist der Streit über die Demontage von Denkmälern, die eine Danksagung an die Rote Armee darstellen. Zu Zeiten des kommunistischen Regimes wurden sie – wie auch in der DDR – in jeder größeren Ortschaft aufgestellt. Die Polen sahen in ihnen von Anfang an Denkmäler von Besatzern und verstanden sie als Demütigung. Es ist also nicht verwunderlich, wenn jetzt – da Polen unabhängig ist – die Relikte der sowjetischen Herrschaft aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Wir wollen nicht, dass Passanten auf polnischen Straßen mit Symbolen eines völkermordenden totalitären Regimes konfrontiert werden: mit roten Sternen, Hammer und Sichel. 

Die Demontage sowjetischer Denkmäler erregt allerdings Moskaus Unmut. Es beschuldigt Polen der mangelnden „Dankbarkeit“ gegenüber den Sowjetsoldaten, die Polen von der deutschen Besatzung „befreiten“. Polen weist dies mit der Begründung zurück, dass es keinen Grund gebe, der Roten Armee „dankbar“ zu sein. 

Weitere Streitfelder 

Ein weiterer Konfliktherd sind Fragen zu postsowjetischen Archiven, die den Forschern verschlossen sind. Russland verweigert Polen die Übermittlung der sogenannten weißrussischen Katyń-Liste; das heißt, von Dokumenten zu etwa 3870 Polen, die 1940 in Weißrussland ermordet wurden. Moskau verweigert auch konsequent eine Aussage dazu, wo die Opfer der „Treibjagd von Augustów“ im Juli 1945 begraben sind. Damals entführten sowjetische Einheiten in der Umgebung von Augustów und Suwałki mindestens 600 Polen aus ihren Häusern und richteten sie an einem unbekannten Ort hin. Ihre Kinder – mittlerweile alt und dem Tode nahe – wissen bis heute nicht, wo die sterblichen Überreste ihrer Nächsten ruhen. Eine Geheimhaltung dieser Informationen ist vonseiten Russlands unmenschlich. 

Vor Kurzem konnte die Welt einen weiteren heftigen polnisch-russischen Streit um die Geschichte beobachten. Im Dezember 2019 beschuldigte Wladimir Putin Polen, 1938 an der Aufteilung der Tschechoslowakei teilgenommen und gemeinsam mit dem „Dritten Reich“ die Ausrottung der europäischen Juden geplant zu haben. Putin berief sich dabei auf die Worte des polnischen Botschafters in Berlin, Józef Lipski, der im September 1938 gesagt hatte, dass Polen dem Reichskanzler ein Denkmal in Warschau setzen würde, wenn er das jüdische Problem löse. 

Die erste Sache bedarf keiner Diskussion. Ja, Polen besetzten 1938 Zaolzie, das zur Tschechoslowakei gehörte. Dies ist eine historische Tatsache, über die nicht diskutiert werden muss. Sie ist weder sensationell noch neu. Jedoch lohnt sich der Hinweis, dass Zaolzie ein Teil Polens war, den die Tschechen 1920 vereinnahmten, während Polen mit den Bolschewiken kämpfte. Polnische Historiker sind geteilter Meinung, was die Beurteilung der Besetzung von Zaolzie betrifft. Die einen meinen, sie war ein Fehler; die anderen, sie war berechtigt. Dieses Thema bleibt in Polen eine offene Debatte. Wladimir Putin müht sich also, offene Türen einzurennen, wie ein polnisches Sprichwort besagt. 

Polens Verantwortung 

Nun zur zweiten Sache, das heißt zum Gespräch zwischen Lipski und Hitler. Die Worte des polnischen Botschafters bringen ihm zweifellos keine Ehre ein. Sie sind kritisch zu bewerten, Höflichkeit gegenüber einem Gesprächspartner hat ihre Grenzen. Doch ist anzumerken, dass Lipskis Aussage nicht der Ausrottung der Juden galt. Denn 1938 konnte diese noch niemand vorhersehen, die Wannsee-Konferenz fand vier Jahre später statt. Lipski sprach mit Hitler über eine Massenauswanderung der Juden. Seine Aussage betraf eben dies. Polen unterstützte in den 30er Jahren die zionistische Ideologie und arbeitete mit Zew Zabotyński, Menachem Begin und anderen zionistischen Revisionisten zusammen. Die Regierung in Warschau sprach sich für den Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina aus, wohin ein beträchtlicher Teil der polnischen Juden auswandern würde. Wie aus erhaltenen Dokumenten des polnischen Außenministeriums hervorgeht, schlossen die polnischen Machthaber jedoch von Anfang an alle radikalen Vorschläge einer „Lösung der Judenfrage“ aus, wie sie vom nationalsozialistischen Regime in Deutschland lanciert wurden. 

Das alles bedeutet natürlich nicht, dass Polen keinerlei Fehler beging. In Polen wird seit Jahren eine hitzige Debatte über unsere Politik am Vorabend und während des Zweiten Weltkriegs geführt. Einerseits beteiligen sich daran Romantiker, die apologetisch alle Beschlüsse unserer Regierenden preisen. Andererseits Realisten, die sie sehr kritisch betrachten. Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Ich bin der Meinung, dass Polen zwei fatale Fehler beging: 

1) 1939 entschloss sich Polen, das britische Garantieabkommen zu akzeptieren, dessen Folge ein Zweifrontenkrieg gegen die Deutschen und die Sowjets war. 

2) 1944 entschloss sich die Leitung der Heimatarmee im Untergrund, den Warschauer Aufstand auszulösen. Dieser hatte keinerlei Aussichten auf Erfolg. Er wurde von den Deutschen blutig niedergeschlagen. Die polnische Hauptstadt wurde zerstört, 150.000 Einwohner verloren ihr Leben. 

Mit den Urhebern der beiden selbstmörderischen Beschlüsse wird die Geschichte streng ins Gericht gehen. 

Vorbild Deutschland 

Zum Schluss noch ein Gedanke zum polnisch-russischen „Krieg um die Erinnerung“. Mit Genugtuung stellt man fest, dass in diesem Bereich die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland nahezu ideal sind. Die Aussöhnung markiert der berühmte Brief polnischer Bischöfe an deutsche Bischöfe von 1965: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ 

Es zeigt sich ein eklatanter Unterschied zwischen der Art, wie die Deutschen mit ihrer totalitären Vergangenheit abrechneten, und der Art, wie Russland mit ihr „abrechnet“. Das ist ein weiterer von tausend Gründen, warum der Platz des jetzigen Polens im Westen und nicht im Osten ist. Im Bündnis mit Berlin, aber nicht im Bündnis mit Moskau. 

• Piotr Zychowicz ist Publizist und Historiker. Er ist Chefredakteur des Magazins „Historia do Rzeczy“ (Geschichte zur Sache) sowie Verfasser zahlreicher Bücher, u.a. „Pakt Ribbentrop-Beck“ und „Obłęd '44“ (Irrsinn '44).
dorzeczy.pl 

 

Lesen Sie weitere Artikel aus unserer Sonderbeilage „1945: Nullpunkt unserer Geschichte“ zum 75. Jahrestag des Kriegsendes:

René Nehring: Nullpunkt unserer Geschichte

Keith Lowe: Die Phoenixe sind müde 

Interview mit Brendan Simms: „Hitlers Hauptaugenmerk lag auf dem Westen“

Igor Grezkij: Der Krieg um die Erinnerung 

Die Beilage liegt der PAZ 19/2020 bei und ist ab Freitag, 8. Mai 2020 am Kiosk erhältlich.


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Kommentare

Helmut Kopp am 04.06.20, 09:47 Uhr

Polen war selbst schuld
Es gab nach dem Ersten Weltkrieg kein einziges Land in Europa, das so kriegslüstern war wie Polen. So führte es Krieg gegen die damals geschwächte Sowjetunion und annektierte weite Gebiete. Im West riss es deutsche Gebiete an sich.
Im Größenwahn träumten die polnische Regierung aber auch viele Polen von der Westverschiebung der Grenze und von der Eroberung Berlins.
Genährt wurde diese Pläne durch die Hetze der katholischen Kirche.
Angloamerikanische Kriegstreiber unter der Führung von Roosevelt und Churchill, die einen Krieg gegen Deutschland planten und somit die Urheber des Zweiten Weltkriegs waren, spannten Polen vor sich ein, um sie dann an den Bolschewismus zu verraten.
Polen hat aber aus der Geschichte nichts gelernt. So biederten sie sich den USA an. Sollten die USA wieder zu einem Krieg in Europa kommen lassen, wird Polen wieder das erste Land sein, das den Krieg zu spüren bekommt.

sitra achra am 15.05.20, 10:54 Uhr

Ich kann die antipolnischen Kommentare hier im Forum nicht nachvollziehen. Piotr hat in allen Punkten Recht. Ich kann seine Aussagen zu hundert Prozent unterschreiben.
Zudem untermauert er die deutsch-polnische Freundschaft zum Ende seines Kommentars. Was kann man sich Besseres wünschen?
Sollte man sich stattdessen die grotesken Geschichtslügen dieses verkommenen Böslings im Kreml zu eigen machen? Dieser Poststalinist und seine Satrapen setzen die bösartige Politik der ehemaligen Sowjetunion auf raffiniert verdeckte Weise fort. Dem muss mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden, und wenn es nötig erscheint, auch mit Atomwaffen.
Polen ist Teil von Europa und verdient unsere volle Unterstützung und Solidarität!
Historische Debatten zu der belasteten Zeit zwischen 1914 und 1945 sollten sachlich und in Freundschaft geführt werden. Es darf nicht sein, dass sich die beiden Völker wieder auseinander dividieren und gegenseitig aufhetzen lassen. Das dümmlich-perfide Spiel der Russen darf nicht mehr funktionieren. Zwischen unsere Solidarität passt kein Blatt Papier. Dzieki Bogu!

Michael Holz am 12.05.20, 18:07 Uhr

"Piotr Piotr Zychowicz ist Publizist und Historiker."

Ein merkwürdiger Historiker, der über den Verlust der "polnischen" Ukraine jammert und in keinem Wort den Raub deutscher Gebiete erwähnt. Er kann ja ein Putin-Hasser bleiben, so wie so viele Polen die Russen hassen. Uns Deutschen helfen solche Gestalten wie Piotr Zychowicz nicht weiter.

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