27.04.2024

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PAZ-Spezial 75 Jahre Kriegsende

Nullpunkt unserer Geschichte

Gedanken zum 75. Jahrestag des Kriegsendes

René Nehring
08.05.2020

Als nach dem 8. Mai 1945 (fast überall) in Deutschland und Europa die Waffen schwiegen, war der Krieg zwar militärisch beendet – aber noch lange nicht vorbei. Die jahrelangen Bombennächte, die Wochen und Monate der Flucht vor der herannahenden Front, der Anblick von toten Soldaten und Zivilisten an Straßen und Wegen, der Verlust geliebter Angehöriger oder auch die Jahre in Lagern und Gefängnissen hallten in den Erinnerungen derjenigen, die all dies erlebt hatten, noch jahrzehntelang nach. Viele ließen sie nie mehr los. Angesichts der Dimensionen – in Europa gab es wohl kaum eine Familie, die nicht auf irgendeine Weise betroffen gewesen wäre – wurde der Zweite Weltkrieg zu einem unvergesslichen Markstein im kollektiven Gedächtnis der Nationen. 

Dies gilt zumal für Deutschland; das Land, von dem der Krieg ausgegangen war, und zu dem er vernichtend wiedergekehrt ist. Während der 8./9. Mai für die Siegernationen einen der größten Triumphe in ihrer Historie symbolisiert, markiert er für die Deutschen den absoluten Nullpunkt ihrer Geschichte: Millionen Landsleute waren tot, unzählige Großstädte lagen in Schutt und Asche, Industrie und Infrastruktur waren flächendeckend zerstört – und im Osten gingen mit Ostpreußen, Schlesien, Pommern und anderen Provinzen Regionen verloren, die über Jahrhunderte die deutsche Kultur geprägt hatten. Verloren ging nicht zuletzt auch die Eigenstaatlichkeit der Deutschen. Das „Tausendjährige Reich“ löste sich auf in Besatzungszonen, in denen Russen, Amerikaner, Engländer und Franzosen das Sagen hatten. 

Ebenso schwer wie die menschlichen und materiellen Verluste wog die moralische Katastrophe: Nachdem die Deutschen in den 30er Jahren ihrem „Führer“ zugejubelt hatten und ihm jahrelang tapfer in den Krieg gefolgt waren, mussten sie nun erkennen, dass sie nicht nur einem Blender, sondern auch einem Verbrecher gefolgt waren. Die Filmaufnahmen aus den befreiten Konzentrationslagern, die in zahlreichen Kinos gezeigt wurden, wirkten ebenso wie die Berichte von den Prozessen gegen die einstige Führung und die historischen Aufarbeitungen in den folgenden Jahren. „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ lautete eine zeitgenössische These Theodor Adornos. Diese Meinung mag heute irrsinnig erscheinen; damals wurde sie von nicht wenigen geteilt. 

Das Volk von Goethe und Schiller, von Mozart, Beethoven und Bach, von Luther und Kopernikus, von Kant und Schopenhauer, von Dürer und Holbein, von Riemenschneider und Schlüter, von Schinkel und Balthasar Neumann, von Daimler und Diesel, von Caspar David Friedrich und Lovis Corinth, von Otto v. Bismarck und Friedrich den Großen und vielen anderen musste fortan mit einer schweren Schuld und Bürde leben, die auch nicht dadurch kleiner wurde, dass auch die Alliierten Kriegsverbrechen begangen hatten und somit auch Millionen Deutsche Opfer des Krieges wurden. 

Schwierige Aufarbeitung 

Die Frage nach dem richtigen Umgang mit den Hinterlassenschaften des „Dritten Reichs“ wurde zu einer brisanten Richtschnur für die Deutschen nach 1945. Wie viel Erinnerung war angemessen? Und wie viel Verdrängung war notwendig, um im Alltag weiterleben zu können? Wie viel Wiedergutmachung war zu leisten? Wann war die Zeit für einen Schlussstrich gekommen? Konnte es diesen überhaupt geben? Die Antworten darauf fielen sehr verschieden aus: Während die einen versuchten, sich so schnell wie möglich in den neuen Verhältnissen einzurichten und nur nach vorn zu schauen, wurden für andere die Ereignisse um 1945 zu einer Zäsur, über die sie nie wieder hinwegkamen. 

Das Maß der Erinnerung hing dabei immer auch vom jeweiligen Standpunkt ab. Nicht zuletzt, weil die Lasten der Niederlage innerhalb des deutschen Volkes höchst unterschiedlich verteilt waren. Hatten alle Landesteile gleichermaßen gefallene Frontsoldaten zu beklagen, waren schon die Schäden des Luftkriegs sehr unterschiedlich zwischen Stadt und Land verteilt. Gänzlich verschieden war die Vermögenslage: Während die Westdeutschen fast ausnahmslos ihr Hab und Gut behalten konnten, wurden in der SBZ schon bald zahllose Betriebe verstaatlicht. Doch immerhin konnten die Mitteldeutschen in den meisten Fällen in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben. Die Ostdeutschen verloren alles. 

Höchst unterschiedlich war auch der Umgang der beiden deutschen Nachkriegsstaaten (die Österreicher hatten sich dafür entschieden, aus der eigenen Geschichte zu fliehen und eine neue Identität zu begründen) mit der Vergangenheit: Die DDR inszenierte sich als Antwort auf die deutsche Katastrophe und zelebrierte den „Sieg über den Hitlerfaschismus“ als konstitutionellen Mythos. Die Erinnerung an das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung wurde rigoros unterdrückt. In der Bundesrepublik hingegen wurden in den ersten Jahren leidenschaftliche Debatten über die Folgen des Krieges geführt. Doch mit der Zeit setzte sich hier die Haltung durch, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wer an die offene deutsche Frage erinnerte, geriet zunehmend unter Rechtfertigungsdruck und Revanchismus-Verdacht. 

Das Gedenken der Nachbarn 

Auch in den kollektiven Erinnerungen der anderen am Krieg beteiligten Nationen blieben die Jahre zwischen 1939 bis 1945 (und zum Teil davor) eine feste, bestimmende Größe. Und auch hier hing die Bewertung vom jeweils eigenen Standpunkt ab. Feierten die Siegermächte UdSSR (später Russland), USA, Großbritannien und Frankreich stolz ihren Sieg über Hitlerdeutschland, so sah es in den sonstigen Ländern oft ganz anders aus. Die Völker Ostmitteleuropas Zum Beispiel erlebten die Rote Armee keineswegs als Befreier, sondern als neue Besatzer. 

Doch auch die Siegermächte kamen – mit Ausnahme der Amerikaner, deren Stern als weltpolitische Ordnungsmacht gerade erste aufging – schon bald ins Grübeln; und das keinesfalls nur, weil auf den Triumph über die Achsenmächte ein „kalter Krieg“ zwischen den einstigen Alliierten folgte. Für die Briten und Franzosen läuteten Aufstände in den Kolonien unmittelbar nach dem Krieg in Europa das Ende ihrer Kolonialherrschaft ein – und damit auch ihren Niedergang als Weltmächte. Und bei den Russen musste die zelebrierte Erinnerung an den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ den immer kläglicher werdenden Alltag im real existierenden „Paradies der Werktätigen“ überstrahlen. Mochten Engländer, Franzosen und Russen auch den Krieg gegen Deutschland gewonnen haben – den Frieden haben sie verloren. 

Zusammen mussten Sieger und Besiegte erkennen, dass der „europäische Bürgerkrieg“ zwischen 1914 und 1945 in eine große Selbstzerstörung des alten Kontinents geführt hatte. 

Stoff für unzählige Geschichten

Die epochale Bedeutung des Zweiten Weltkriegs zeigt sich nicht zuletzt in einer kaum noch zu überblickenden Literatur. Unmittelbar nach dem Kriege erschienene Arbeiten wie Eugen Kogons „Der SS-Staat“ (1946) oder Hugh Trevor Ropers „The Last Days of Hitler“ (1947) gelten noch heute als Standardwerk. Die Zahl der weltweit erschienenen Arbeiten über einzelne Aspekte des Krieges oder der Gesamtdarstellungen dürfte in die Millionen gehen.  

Neben den Arbeiten der Wissenschaft erschienen die Memoiren der beteiligten Protagonisten, der Sieger wie Winston Churchills „Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ oder Georgij Schukows „Erinnerungen und Gedanken“ oder Konstantin Rokossowskis „Soldatenpflicht“, und der Geschlagenen wie Erich von Mansteins „Verlorene Siege“, Heinz Guderians „Erinnerungen eines Soldaten“ oder Otto Laschs „So fiel Königsberg“. Auch die wenigen verbliebenen Führungspersonen des „Dritten Reichs“ wie Albert Speer und Karl Dönitz erreichten mit ihren Erinnerungen heute kaum noch vorstellbare Auflagen. Hinzu kamen die Schilderungen namhafter Publizisten wie Margret Boveri, Sebastian Haffner, Marion Gräfin Dönhoff oder Wolf Jobst Siedler. 

Schier endlos auch die Zahl der Romane und Erzählungen, in denen der Krieg und seine Folgen literarisch verarbeitet wurden. Von Heinrich Bölls „Haus ohne Hüter“ über Günter Grass' Danziger Trilogie und „Beim Häuten der Zwiebel“ über Ernst Jüngers „Strahlungen“ und Hans Hellmut Kirsts „08/15“-Trilogie über Lothar-Günther Buchheims „Das Boot“ oder Arno Surminskis „Jokehnen“ reicht das Spektrum. Ein Solitär zwischen all diesen Werken ist Walter Kempowskis monumentale Zitatesammlung „Das Echolot“. 

In den letzten Jahren, als mancher glaubte, dass es kaum noch etwas über den Krieg zu erzählen gäbe, kamen publizistische Arbeiten über den „Untergang der kleinen Leute“ (so der Untertitel des Buches „Kind, versprich mir, dass Du mich erschießt“ von Florian Huber), die Schicksale der Frauen (etwa in Miriam Gebhardts Buch „Als die Soldaten kamen“ oder Ingo von Münchs „Frau, komm!“) sowie der heimgekehrten Soldaten (wie in Svenja Goltermanns Arbeit „Die Gesellschaft der Überlebenden“) hinzu. Besondere Aufmerksamkeit erfuhren die Bücher von Sabine Bode über die „vergessene Generation“ der Kriegskinder und -enkel, die sich damit befassen, welche Traumata von den Erlebnisgenerationen an die Nachgeborenen weitergegeben wurden. Wer sie in die Hand nimmt, kann nur darüber staunen, dass es so lange gedauert hat, bis sich jemand dieser Fragen angenommen hat. 

Ausblick 

In diesem Jahr läuft das öffentliche Gedenken deutlich ruhiger. Und das nicht nur wegen der Corona-Pandemie, die zur Absage zahlreicher Gedenkveranstaltungen geführt hat. Auch auf dem Buchmarkt, wo alle neu erscheinenden Titel lange vor dem Ausbruch geschrieben wurden, gibt es nur wenige neue Titel. Selbst der „Spiegel“, der oft genug mit Cover-Geschichten über den „Führer“ Kasse machte, hat im Jubiläumsjahr auf eine Titelgeschichte zum Kriegsende verzichtet. 

Ob dies ein Zeichen für ein nachlassendes Interesse der Öffentlichkeit oder für ein langsames Verblassen der Erinnerung an Krieg und NS-Zeit ist? Man wird sehen. Erst zur Jahreswende brach eine Debatte zwischen Polen und Russland über die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges aus, die uns zeigt, dass die Geister der Vergangenheit noch sehr lebendig sind.

 

Lesen Sie weitere Artikel aus unserer Sonderbeilage „1945: Nullpunkt unserer Geschichte“ zum 75. Jahrestag des Kriegsendes:

Keith Lowe: Die Phoenixe sind müde 

Interview mit Brendan Simms: „Hitlers Hauptaugenmerk lag auf dem Westen“

Igor Grezkij: Der Krieg um die Erinnerung 

Piotr Zychowicz: Eine Niederlage, kein Sieg 

Die Beilage liegt der PAZ 19/2020 bei und ist ab Freitag, 8. Mai 2020 am Kiosk erhältlich.


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