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PAZ-Spezial 75 Jahre Kriegsende

Die Phönixe sind müde

Während das Jahr 1945 im Westen Europas in eine Einigungsbewegung mündete, folgte im Osten schon bald neues Unrecht. Die Erinnerung an die Apokalypse ist noch überall in Europa präsent. Doch vom Aufbruchsgeist der Nachkriegszeit ist wenig geblieben

Keith Lowe
08.05.2020

Im Mai 1945 lag Europa in Trümmern. Mindestens 50 Millionen Menschen waren umgekommen und Zigmillionen waren dem Hungertod nahe. Ein Artikel der „New York Times“ aus dieser Zeit verglich den gesamten Kontinent mit einer Vision aus dem Buch der Offenbarung: Von der Mitte bis zum Rand erstreckte sich eine Landschaft des Hungers, der Krankheit, der Zerstörung und des Todes. 

Und doch gab es dabei auch große Hoffnung. Der gleiche Artikel berichtet: Europa „verfügt über genügend Vitalität, um selbst dies, die größte Katastrophe der Welt, zu reparieren“. Es werde wiederauferstehen, wie ein Phönix, größer und stärker als je zuvor. 

Die „Stunde Null“ eines Kontinents 

Man kann Europa heute nicht verstehen, ohne zuerst diesen Moment in unserer gemeinsamen Geschichte zu verstehen. In Deutschland nannte man ihn „Stunde Null“, in anderen Ländern „Jahr Null“. Der Begriff trug sowohl Schrecken als auch Hoffnung in sich: Einerseits war der Kontinent in die Steinzeit zurückgebombt worden, andererseits hatten wir aber auch die Chance erhalten, wieder bei Null anzufangen. 

In den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Krieg gewann die Hoffnung die Oberhand. Eine Zeitlang schien es überall Phönixe zu geben. Tausende Städte erstanden aus den Trümmern – nicht die alten mit ihren engen Straßen und Elendsvierteln, sondern neue, umgestaltete, die den Bedürfnissen der Moderne gerecht werden sollten. „Der Bombenkrieg hat den Planern unerwartete Chancen bereitet“, erklärte ein britischer Berater am Ende des Krieges. „Er hat uns nicht nur manch dringend notwendigen Abriss abgenommen, sondern – was noch wichtiger ist – er machte den Menschen aller Bevölkerungsschichten auch die Notwendigkeit des Wiederaufbaus bewusst.“ Die Städte, in denen wir heute leben, sind ein Produkt dieser außergewöhnlichen Zeit. 

Andere Bereiche der Gesellschaft wurden ebenso wiederaufgebaut. Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme wurden eingerichtet oder umgebaut – die gleichen Systeme, auf die sich so viele Europäer in der jetzigen Krise verlassen. Vermögen wurden umverteilt, Agrarreformen wurden durchgeführt, die Bildungssysteme wurden gründlich überarbeitet. In Frankreich, Belgien, Italien, Malta, Ungarn, Jugoslawien und Griechenland erhielten die Frauen zum ersten Mal das uneingeschränkte Wahlrecht. In Osteuropa wurde unter dem Kommunismus fast jede Form der wirtschaftlichen Aktivität unter staatliche Kontrolle gestellt; und selbst im Westen wurden wichtige Industriezweige wie der Kohlebergbau und die Stromerzeugung verstaatlicht. Für die nächsten 30 Jahre wurde die zentrale Planung – also die Art Planung, die sich während des Krieges als so wirksam erwiesen hatte – fast überall zur Norm. 

Aufbruch im Westen, neue Gewaltherrschaft im Osten 

In dieser Zeit wurde auch ein neuer Geist der Zusammenarbeit zwischen den Nationen geboren. Es begann mit einem Handelsabkommen zwischen sechs westeuropäischen Ländern zur Regulierung der Kohle- und Stahlproduktion. Dieses entwickelte sich rasch in eine umfassendere Wirtschaftsgemeinschaft und letztendlich in die heutige Europäische Union. Die Erinnerung an den Krieg bildete die ideologische Grundlage für diese Union: Nach den Worten von Robert Schuman bestand der Sinn und Zweck einer supranationalen Organisation darin, einen weiteren Krieg „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ zu machen. 

Aber diese Reformleidenschaft hatte auch ihre Schattenseiten. In den von den Sowjets befreiten mittel- und osteuropäischen Ländern wurden gegen den Willen der Völker kommunistische Regierungen eingesetzt. Die Programme des gesellschaftlichen Wandels, die sie einleiteten, entsprangen zumeist nicht dem Wunsch des Volkes. Sie waren Vorhaben von oben nach unten, die direkt aus Moskau importiert und gewaltsam aufgezwungen wurden. Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt, warum die osteuropäischen Regierungen heute tendenziell nationalistischer und euroskeptischer sind als Regierungen im Westen. Der Grund liegt darin, dass diese Länder bereits Erfahrungen mit supranationalen Organisationen gemacht haben, und diese waren nie besonders gute, vor allem nicht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. 

Ethnische Säuberungen 

Es gibt weitere, noch düsterere Erinnerungen an diese Zeit. In dem Bemühen um ein Ende der ethnischen Spannungen, die durch den Krieg entfacht worden waren, setzte im Sommer 1945 eine Reihe von Bevölkerungsverschiebungen ein. Die Tschechoslowakei vertrieb ihre gesamte deutsche Bevölkerung und versuchte auch – mit weniger Erfolg –, ihre ungarische Bevölkerung auszusiedeln. Polen vertrieb seine deutschen und ukrainischen Minderheiten. Juden, die der auch nach dem Krieg anhaltenden Verfolgung müde waren, flohen zu Hunderttausenden nach Amerika und Palästina. 

Vorkommnisse wie diese sollten Teil des Wiederaufbaus der Nationen sein, doch in Wirklichkeit waren sie etwas viel Dunkleres: der Schlussakt des Zweiten Weltkrieges selbst. Ihre Folgen sind bis heute in ganz Europa spürbar. Vor dem Krieg gehörten Länder wie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei zu den ethnisch vielfältigsten Regionen des Kontinents. Heute sind sie durch eine nahezu vollständige kulturelle Homogenität gekennzeichnet, insbesondere wenn man sie mit dem Regenbogen der im Westen existierenden Farben und Glaubensbekenntnisse vergleicht. 

Erinnerungen an Geschehnisse wie diese sorgen noch immer für Verdruss. Die große Tragödie der „Stunde Null“ besteht darin, dass die Hoffnungen und Träume des Jahres 1945 nach 75 Jahren verblasst sind, das Trauma jedoch weiterlebt. Familien, die gezwungen waren, aus Osteuropa zu fliehen, fühlen sich noch immer als Flüchtlinge. Die Wohnungsbauentwicklungen der Nachkriegszeit wirken nicht mehr so utopisch: Sie sehen eher aus wie Narben in der Landschaft – eine physische Erinnerung an die Gewalt, die wir im Krieg erlebt haben. Selbst die Europäische Union mutet nicht mehr an wie ein Phönix, sondern eher wie ein träger alter Hund, der sogar zu müde ist, um nach den Fliegen zu schnappen, die ihm um den Kopf schwirren. 

Ungeister der Vergangenheit 

Auch die geopolitischen Wunden jucken weiter. Die östliche Hälfte Europas beschwert sich regelmäßig darüber, dass sie von der westlichen Hälfte nicht verstanden wird. Warum sollten sich Länder wie Polen oder Litauen an den Mai 1945 als Moment der Wiedergeburt erinnern? Sie gedenken lieber des 23. August 1939 – des Tages, an dem die Sowjetunion und Nazideutschland Europa unter sich aufteilten. Dies ist kein Symbol der Wiedergeburt, sondern eines ihrer Opferrolle.  

Europa erlebt gefährliche Zeiten. Ein Opfergefühl ist keine solide Grundlage für den Aufbau einer stabilen Gesellschaft; und doch sind es heute diese Erinnerungen, nach denen wir fast ohne nachzudenken greifen. Jedes Mal, wenn eine griechische oder italienische Zeitung Deutschland vorwirft, das „Vierte Reich“ zu sein, oder Politiker in London EU-Beamte mit KZ-Wachen vergleichen oder führende Politiker der Welt das Coronavirus als „unsere größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnen, verstärken wir unsere Erinnerung an das Trauma. Diesen Erinnerungen stand einst die Hoffnung auf eine bessere Zukunft als Gegengewicht gegenüber, aber wo ist das Gegengewicht heute? 

Dies ist vielleicht die größte Herausforderung, vor der wir 75 Jahre nach Kriegsende stehen. Die Erinnerung an die Apokalypse ist noch immer präsent, so stark wie eh und je, doch die Phönixe von 1945 sind alle alt und müde geworden. 

• Keith Lowe ist britischer Historiker und Schriftsteller. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950“ (2014) sowie „Furcht und Befreiung. Wie der Zweite Weltkrieg die Menschheit bis heute prägt“ (Klett-Cotta 2019). 

www.keithlowehistory.com

 

Lesen Sie weitere Artikel aus unserer Sonderbeilage „1945: Nullpunkt unserer Geschichte“ zum 75. Jahrestag des Kriegsendes:

René Nehring: Nullpunkt der Geschichte

Interview mit Brendan Simms: „Hitlers Hauptaugenmerk lag auf dem Westen“

Igor Grezkij: Der Krieg um die Erinnerung 

Piotr Zychowicz: Eine Niederlage, kein Sieg 

Die Beilage liegt der PAZ 19/2020 bei und ist ab Freitag, 8. Mai 2020 am Kiosk erhältlich.


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