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PAZ-Spezial 75 Jahre Kriegsende

Der Krieg um die Erinnerung

Seit Monaten tobt ein Streit zwischen Russland und Polen um die jeweilige Mitverantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Die Debatte zeigt, wie mit Geschichte noch immer Politik gemacht wird

Igor Grezkij
08.05.2020

Kurz vor Weihnachten hat der russische Präsident Wladimir Putin Warschau ein ausgesprochen unschönes „Geschenk“ unter den Baum gelegt, als er sich innerhalb von fünf Tagen insgesamt drei Mal öffentlich äußerte und der polnischen Vorkriegsregierung eine Teilschuld an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs zuwies. Summa summarum bezichtigte Putin die Polen, sich mit Hitler aus expansionistischen, antisemitischen und sowjetfeindlichen Beweggründen abgesprochen zu haben. In einer fast 60-minütigen „Geschichtsstunde“ des russischen Präsidenten für acht postsowjetische Staatschefs wurde Polen anderthalb Mal häufiger als Hitlerdeutschland erwähnt. Den Höhepunkt seiner Äußerungen zu diesem Thema bildete eine ehrabschneidende Tirade gegen Józef Lipski, einen herausragenden polnischen Diplomaten jener Zeit. 

Den formalen Anlass für Putins ausführliche geschichtliche Exkurse stellte die „Entschließung des Europäischen Parlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“ vom 19. September 2019 dar. Zum ersten Mal wurde auf europäischer Ebene ohne diplomatische Formulierungen und Andeutungen, sondern klipp und klar erklärt, dass zwischen der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein direkter Zusammenhang besteht. Damit wurde die Verantwortung für die schreckliche Zeit, die die Menschen auf unserem Kontinent erleiden mussten, Nazideutschland und Stalins UdSSR zugewiesen. Aber warum hatte sich Putin hauptsächlich auf Polen und nicht auf die Europäische Union eingeschossen? 

Grobe Taktik, hässliches Ziel 

Putins wichtigstes Ziel besteht darin, dafür zu sorgen, dass Kritik am aggressiven Verhalten des Kreml, und mag sie noch so gerechtfertigt und begründet sein, im Westen nicht ernstgenommen wird. Dadurch will er die globale politische Elite nachsichtiger gegenüber seinen außenpolitischen Abenteuern stimmen und deren Folgen legitimieren. Für Putin ist es ideal, wenn auch die kraftvollste Argumentation, mit der die Völkerrechtsverletzungen Moskaus entlarvt werden, von der westlichen Gemeinschaft als Ausdruck der Unfähigkeit und des absichtlichen Unwillens, mit Russland einen Konsens zu erreichen, verstanden wird. Putin will, indem er versucht, den Fokus der internationalen Agenda zu verändern, die Wahrheit über sich hinter dem negativen Image derjenigen verstecken, die sie aussprechen, und dafür reicht es aus, ein paar EU-Mitgliedsstaaten als paranoid und „russlandfeindlich“ zu brandmarken. 

Und in dieser Hinsicht bietet sich Polen als Angriffsobjekt geradezu an. Nach der Machtergreifung durch die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Jahre 2015 ist das internationale Ansehen Polens spürbar gesunken, da sich seine Regierung auf einige überwiegend unnötige Konflikte mit mehreren Schlüsselpartnern eingelassen hat. In diesem Zusammenhang sei an die sich bereits über mehrere Jahre hinziehende Konfrontation mit Brüssel wegen der polnischen Justizreform erinnert, aufgrund welcher die Europäische Kommission Polen beschuldigt, gegen grundlegende Prinzipien der Demokratie verstoßen zu haben. Gleichzeitig wird das Verhältnis zu Deutschland durch haltlose polnische Forderungen nach Wiedergutmachung für Schäden im Zweiten Weltkrieg vergiftet. 

Es sieht danach aus, als ob man sich im Kreml dazu entschlossen hat, diese ganzen Unstimmigkeiten auszunutzen und somit die Kritik des Westens an Russland abzuschwächen. Es war Putins offensichtliche Absicht, in Warschau eine Reaktion von höchster Stelle auf seine Worte auszulösen. Er wollte deutlich machen, dass die Entschließung vom September 2019 zwar von der erdrückenden Mehrheit der EU-Parlamentsabgeordneten verabschiedet wurde, ihr Inhalt aber von den Regierungen der europäischen Länder – mit Ausnahme von Polen – nicht geteilt wird. Zum Teil ist ihm das gelungen. Obwohl die Europäische Kommission Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in seiner Auseinandersetzung mit dem russischen Autokraten uneingeschränkt unterstützt, hat sich bislang kein einziger EU-Staatschef zu diesem Thema geäußert. 

Polens Fehler, Putins Nutzen 

Polnische Historiker vergleichen Putins Argumentation damit, wie die Geschichte des Beginns des Zweiten Weltkriegs seinerzeit durch Josef Stalin präsentiert wurde, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Zu Sowjetzeiten wurde Polen kein Antisemitismus unterstellt. Der jetzige Kremlchef hat aber offensichtlich vor, diese Karte auszuspielen. Er erschreckt Europa mit dem Antisemitismus, der in Polen angeblich sein Haupt erhebt, und versucht somit, das globale politische Establishment empfänglicher gegenüber der These zu machen, dass die polnischen Eliten grundsätzlich an ethnischen und nationalen Phobien leiden; und wenn sie gar antisemitisch eingestellt sind, dann sind sie allemal auch russophob. 

Bedauerlicherweise begeht die polnische Regierung taktische Fehler und schafft somit selbst die Bedingungen, unter denen Putins Intentionen umgesetzt werden können. So hat sie beispielsweise Anfang 2018 die Meinungsäußerung, Polen als Land und die Polen als Volk seien Mittäter der NS-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gewesen, unter Strafe gestellt (zunächst als Straftat, später zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft). Es sieht danach aus, als ob die Führung von „Recht und Gerechtigkeit“ damit versucht hat, sich die Loyalität ihrer rechtsradikalen Wählerschaft am Vorabend der für den Herbst vorgesehenen Kommunalwahlen zu sichern. Die USA und Israel aber reagierten darauf ausgesprochen negativ. In Folge geriet die polnische Regierung immer häufiger wegen Holocaustleugnung und zunehmender antisemitischer Stimmungen in die Kritik. 

Putin hatte angekündigt, einen Aufsatz über den Beginn des Zweiten Weltkriegs zu verfassen. Die Mitarbeiter der Präsidialverwaltung haben ihn mit Sicherheit schon vorbereitet, aber die derzeit auch in Russland herrschende Epidemie ist kein guter Zeitpunkt, um ihn zu veröffentlichen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der „polnische Antisemitismus“ einen besonderen Stellenwert in diesem Aufsatz einnehmen, und höchstwahrscheinlich wird auch Józef Lipski wieder nicht ungeschoren davonkommen. 

Alles für die Siegesparade 

Sollte dann Putins Aufsatz irgendwann einmal erscheinen, werden professionelle Geschichtswissenschaftler den dilettierenden Historiker aus dem Kreml erneut widerlegen. Ihm ist es aber egal, was die Wissenschaftler von seinem Aufsatz halten werden. Für Putin ist Geschichte keine Wissenschaft, sondern nur ein Komplex miteinander konkurrierender Meinungen. Putin geht es nicht um Wahrheitssuche – für ihn ist es viel wichtiger, den westlichen Eliten seine These vom „antisemitischen und russlandfeindlichen Polen“ zu verkaufen. 

Es gibt ein interessantes Detail: Am ausführlichsten hat sich Putin über Polen Ende Dezember 2019 auf dem informellen Gipfeltreffen der GUS geäußert, das die Vorbereitung der Festlichkeiten zum 75. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg zum Inhalt hatte, die im Mai 2020 begangen werden sollten. 

In der Ära Putin spielt der 9. Mai eine wichtige Rolle, um das autoritäre politische Regime zu legitimieren und die Russen um Putins Figur herum zu konsolidieren. Alle fünf Jahre werden die Festlichkeiten zum Tag des Sieges besonders pompös und stets in Anwesenheit ausländischer Staats- und Regierungschefs ausgerichtet. Deren Teilnahme gilt als Bestätigung des imperialen Status von Putins Russland und als Rechtfertigung des russischen Geschichtsnarrativs, in dem Stalin und die UdSSR ausschließlich als Befreier von der „braunen Pest“ und nicht als Mittäter an furchtbaren Verbrechen figurieren. Darüber hinaus sorgen solche Veranstaltungen dafür, dass die ältere Generation westlicher Politiker an ihren Phobien aus der Zeit des Kalten Krieges festhält. Diese Politiker schauen auf Russland, sehen aber die UdSSR. Der Kreml nutzt das geschickt aus, indem er dem Westen nichtexistierende Gefahren verkauft. 

Darum kommt der Anzahl von ausländischen Delegationen höchsten Ranges, die am 9. Mai in Moskau anwesend sind, eine kolossale Bedeutung zu. 2005, zum 60. Jahrestag des Sieges, waren 53 Staats- und Regierungschefs mit von der Partie. Für Aufsehen sorgte damals die Weigerung von Estland und Litauen, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Aber da die Liste der ausländischen Gäste so beeindruckend war, fiel ihre Abwesenheit nicht weiter auf. Damit ließ der Kreml alle wissen: Die Geschichte wird von Siegern geschrieben, und über diese wird bekanntermaßen nicht gerichtet, und man kommt an Russland nicht vorbei, so oder so. Einzig und allein EU-Kommissionsmitglied Günter Verheugen zeigte damals Solidarität mit den baltischen Staaten. Die Kremlblätter bezeichneten ihn als „weiße Krähe“ und hoben besonders hervor, dass EU-Kommissionschef José Manuel Barroso und mehrere weitere Kommissionsmitglieder, so Benita Ferrero-Waldner, Peter Mendelsohn und Javier Solana, ihre Teilnahme zugesagt hatten. 

Schrumpfender Einfluss 

In den letzten 15 Jahren von Putins Regierungszeit ist jedoch der russische Einfluss auf die internationale Politik erheblich geschrumpft, obwohl Russland in der Lage war, nicht nur der Ukraine und Georgien, sondern auch dem Westen eine ganze Reihe sicherheitspolitischer Probleme zu bereiten. Das schlug sich auch in den Besucherzahlen anlässlich der traditionellen Feierlichkeiten in Moskau nieder. 2015 waren nur noch 21 Staatschefs anwesend. 

Schon jetzt liegt auf der Hand, dass es Putin in diesem Jahr nicht möglich sein wird, den Russen und der Welt zu demonstrieren, dass Russland – wie es Barack Obama einmal gesagt hat – nicht nur eine regionale Macht, die sich verzweifelt an die Überreste des sowjetischen Einflusses klammert, sondern eine „Großmacht“ mit weltweiten Interessen ist. Es waren sowieso nicht besonders viele Politiker von Weltruf, die am 9. Mai auf dem Roten Platz dabei sein wollten. Jetzt aber, nachdem die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges wegen der Covid-19-Epidemie auf einen späteren Zeitpunkt verlegt wurden, kann man davon ausgehen, dass die Loge für die ausländischen Gäste nicht überbelegt sein wird. Bis auf Emmanuel Macron, der sich in seinen Kombinationen in Bezug auf Russland ordentlich verheddert hat, werden wir wohl kaum einen westlichen Staats- oder Regierungschef in Moskau zu Gesicht bekommen. 

Dr. Igor Grezkij ist Historiker und Dozent am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität St. Petersburg. 

Lesen Sie weitere Artikel aus unserer Sonderbeilage „1945: Nullpunkt unserer Geschichte“ zum 75. Jahrestag des Kriegsendes:

René Nehring: Nullpunkt unserer Geschichte

Keith Lowe: Die Phoenixe sind müde

Interview mit Brendan Simms: „Hitlers Hauptaugenmerk lag auf dem Westen“

Piotr Zychowicz: Eine Niederlage, kein Sieg

Die Beilage liegt der PAZ 19/2020 bei und ist ab Freitag, 8. Mai 2020 am Kiosk erhältlich.


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Kommentare

sitra achra am 14.05.20, 11:19 Uhr

Sicher haben die Polen auch einigen Dreck am Stecken, besonders was die Behandlung der deutschen Minderheit im Vorkriegspolen betrifft, des Weiteren die Peinigung, gezielte Ermordung von Zivilisten und die völkerrechtswidrige Vertreibung der Deutschen aus ihrer angestammten Heimat nach dem Krieg, unter der sie bis heute schwerstens leiden.
Das alles hat allerdings eine ganz andere Dimension als der von Russland ausgehende Kommunismus in stalinistischem Gewand. Der kostete laut Schwarzbuch des Kommunismus mindestens 100 Mio. Menschen ihr unschuldiges Leben. Nicht nur deutsche Menschen, sondern auch die Mehrheit der Polen haben unter dieser Gewaltherrschaft gelitten, und es war die Solidarnosc, die sich gegen diese russische Pest aufgelehnt hat.
Das sollten wir bitte gerne den Polen zugute halten!
Außerdem ist das heutige Polen ein Land mit liebenswerten Menschen, die endlich in einem demokratischen Rechtsstaat leben dürfen.
Die Polen sind ein Kulturvolk, was man von dem weiter östlich liegenden Moloch leider nicht immer sagen kann.
Dieses dort hausende Volk lügt sich über seine Vergangenheit ständig in die Tasche und hätte aufgrund seiner (über die Jahrhunderte) gewalttätigen Geschichte mehr Grund , sich mit seiner immensen historischen Schuld auseinander zu setzen.
Ich kann nur hoffen, dass man die Unterschiede in der historischen Betrachtung und Bewertung der beiden Nationen angemessen berücksichtigt.
Von dem deutschen historischen Versagen und den deutschen Querelen einmal abgesehen.

Dr. Rolf Caspar am 12.05.20, 13:08 Uhr

Es ist mir ein Bedürfnis, Herrn Herrmann in seiner weitergreifenden Betrachtung und Wertung ausdrücklich zuzustimmen. Demgegenüber empfinde ich, dass es der Autor des Artikels an der dem Thema, der geschichtlichen Tragödie und der gegenwärtigen Konfliktsituation angemessenen Neutralität und Souveränität mangeln lässt. Faktenauswahl, Wertungen und rhetorische Einfärbung hinterlassen vielmehr den Eindruck, dass eine einseitige Parteinahme für die polnische Seite erfolgt. Das scheint an zahlreichen Stellen nachweisbar, wozu hier allerdings Raum und Zeit fehlten. Hingewiesen sei aber z. B. darauf, dass Russland von seinem Narrativ, ausschließlich "Befreier von der braunen Pest" zu sein, kaum abrücken wird, solange z. B. die politisch korrekte Geschichtsideologie Deutschlands mit größtem Eifer dasselbe Narrativ bedient. Und was den Komplex "Polen und Semitismus" angeht, genügt eine einfache Befragung der (immer weniger werdenden) Zeitzeugen. Den Stab sollten wir da aber nicht brechen, sondern uns vielmehr an emotionslose wissenschaftliche Erörterungen dieses geschichtlichen Komplexes gewöhnen. Die Sicht des Autors wird die immer noch für alle beteiligten Seiten anstehende wahrhaftige Entwirrung und Aufarbeitung der geschichtlichen Gemengelage nicht gerade erleichtern.

Siegfried Hermann am 08.05.20, 10:52 Uhr

Es tobt KEIN Krieg um (offizielle) Erinnerung (Geschichtsschreibung), sondern um nichts anderes als ein Krieg um die Wahrheit!!!
Je tiefer man in den Karnickelbau vorstösst, um so unappetitlicher wird es für die Polen... und Briten, die schon in den frühen 30zigern Jahren die Polen geradezu auf Krieg gegen das Deutsche Reich getrimmt haben und jegliche Gespräche über das Schicksal der Volksdeutschen torpedierten.
Danzig war die Falle von Churchill endlich gegen das Deutsche Reich in den Krieg zu ziehen.
Die Polen täten gut daran, endlich vorurteilsfrei und ehrlich ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten und dann auch die Konsequenzen zu ziehen!
Putin scheint da anderer Meinung und seine Geduld ist nun am Ende.

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