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Kants zentrales Anliegen zur Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit war die Aufklärung. Doch was ist darunter zu verstehen? Gedanken zu einem grundlegenden Begriff in der Königsberger Kultur
Aufklärung, so betont Kant in weltbürgerlicher Absicht, ist nicht bloß – sozusagen „objektiv“ – ein wissenschaftliches, sozialreformerisches oder technologisches Problem. Kant macht mit einer sehr persönlichen Sentenz zunächst darauf aufmerksam, dass Aufklärung vom Grunde her nur funktioniert, wenn mit ihr – eben subjektiv – „ein gewisser Herzensanteil“ verbunden werden kann, den wir Menschen – als Vernunftpersonen – „am Guten“ empfinden.
Aber gerade das, so Kant, darf nicht nur eine private Inspiration bleiben, sondern „muß nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluß haben“. Aber zugleich kritisiert Kant am zeitgenössischen Regierungshandeln, dass „unsere Weltregierer zu öffentlichen Erziehungsanstalten und überhaupt zu allem, was das Weltbeste betrifft, für jetzt kein Geld übrig haben, weil alles auf den künftigen Krieg schon im Voraus verrechnet ist“. Hat aber das nicht womöglich negative Auswirkungen auf dasjenige, was mit Aufklärung „dereinst einmal zu Stande kommen“ sollte?
Kant konstatiert hier zum Verlauf seiner Gegenwart durchaus „einen befremdlichen, nicht erwarteten Gang menschlicher Dinge“, so wie auch sonst im Allgemeinen, dass, wenn man die Geschichte „im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vortheilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken.“
Gerade wir heute Lebenden sind Zeitgenossen und Betroffene solcher Antagonismen. Wir akzeptieren im demokratischen Raum der Polis immer mehr teilnehmende Akteure und Meinungen und bemerken aber zugleich durch sie auch immer wieder drastische Infragestellungen von (eigentlich grundgesetzlich garantierter) Denk-, Meinungs- und Forschungsfreiheit. So erleben wir im gesellschaftlichen Zusammenleben (zumal in Deutschland) eine inzwischen bis in den Schulalltag reichende Widerstands- und Insurrektionspraxis, deren moralische Robustheit ihren sachlich aufklärerischen Mehrwert bei weitem überflügelt; dieser sogenannte „zivile Ungehorsam“ versteht sich seinem Selbstverständnis nach auch noch absurderweise sogar als „Enlightenment-in-action“, beziehungsweise als „La lumière directe“.
Absage an Revolutionen
Kant bliebe bei einer solchen geistigen Verstiegenheiten aus Erfahrung und aus Begriffen skeptisch: „Durch Revolutionen“, so macht er deutlich, „wird vielleicht ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger und herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurtheile werden ebenso wohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.“ Kurzum, es wird „in Revolutionen die Menge ihr eigener Tyrann“. Das alles will Kant aber nicht etwa als Tragödie der Kultur (Georg Simmel) zu verstehen versuchen – und damit überhaupt womöglich Aufklärung dem Veitstanz der Dialektik (Heiner Müller) zu überlassen.
Kant hatte mit seinem tiefen Sinn für Widersprüche und Paradoxien immer einen realistischen Zugang zur Unübersichtlichkeit dynamischer Vorgänge in Natur und Geschichte; zu, mit Goethe gesagt, „des Lebens labyrinthisch irren Lauf“. Gerade für die Gegenläufigkeit von Programm und Resultat in Politik und Wissenschaft hatte Kant immer einen ironischen Zungenschlag parat. Er versteht das Unabgeschlossene, das Prozesshafte, das Asymmetrische als dem Leben lege artis inhärent, geradeso wie Goethe, wenn der Wirklichkeit bestimmt als „die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausathmen der Welt, in der wir leben, weben und sind“.
Und gerade innerhalb solcher Problemlagen paradoxer Weltprozesse und solchen Weltverstehens können Kant und wir dieselbe Frage stellen: „Leben wir denn nun jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?“ Unsere Antwort ist die Antwort Kants: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Ein solches sei, so Kant, das Zeitalter Friedrichs (des Großen) mit seinen politischen und kognitiven Innovationen, – dem auch wir uns mit unseren demokratischen und digitalen Aufbrüchen als Aufklärungsbemühungen wohl zugesellt fühlen dürfen.
Und wie wir Menschen nun, in unterschiedlichen Zeitaltern von Aufklärungen, endlich auch selber zu Aufgeklärten werden könnten, dazu gibt uns Kant in seinem Text „Was ist Aufklärung?“ in der „Berlinischen Monatsschrift“ von September 1784 einige Hinweise. Die Perspektive von Kants Überlegung ist dabei nicht, etwa mit althergebrachten Schulbegriffen im Empirischen unserer alltäglichen Weltverhältnisse auf bislang unerkanntes und verborgen Emanzipatorisches aufmerksam zu machen, sondern er richtet seinen neuen Weltbegriff von Subjektivität ganz auf unser Selberdenken. Hier macht er ein paar Schwierigkeiten namhaft, die wir Menschen selber zu bewältigen hätten, wenn wir als Aufgeklärte wollten gelten dürfen. Das soll nachfolgend in drei Abschnitten vorgeführt werden:
I. Kant als systemischer Aufklärer
Als systemischer Aufklärer hat Kant zwei Sachverhalte vor Augen: Erstens sah er ursprünglich den Zustand seiner Wissenschaft, die Metaphysik, selber höchst aufklärungsbedürftig. Wir kennen alle die kräftigen Metaphern, mit denen er diesen Zustand beschreibt – etwa seine Rede vom „bodenlosen Abgrund der Metaphysik“, dass sie „ein finsterer Ocean ohne Ufer und ohne Leuchttürme“ sei. Er will, wie er schreibt, den „Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben“ versuchen.
Dieses Aufklärungsbegehren begann in Deutschland, in Königsberg, mit einem großen Akkord, nämlich mit der Aufforderung, sich bei allen Belangen von Mensch und Welt künftig im Denken zu orientieren. Der philosophische Grund dafür: Kant interessiert sich weniger für das Esse (das Sein) von Welt, als vielmehr für das Operari (das Handeln, das Tätige) in ihr.
Seine transzendental-philosophische Logik aller Erkenntnis erzeugt eine im Vergleich zur alten universalistischen Metaphysik reduzierte Wissenspraxis. Er kapriziert sich auf die Diesseitigkeit und das Fragmentarische aller wissenswerten Dinge, er konzentriert sich aufs Endliche der Erscheinungen. Seine kritische, Kant sagt auch „skeptische“, Methode versteht er als „Experimentalphilosophie“. Kant wollte nun damit begreiflich machen, dass Erkennen ein wohldefinierter Vorgang des Konstruierens ist, „wodurch man im Stande ist, den Zusammenhang der Dinge mit ihren Gründen herzustellen und [damit] deutlich einzusehen“.
Zweitens wollte Kant den Leuten klarmachen, dass es auch nicht-begriffliche, gewissermaßen soziale Gründe im empirischen Denken und im individuellen Verstand gibt, wodurch sich Denken und Verstand selber Schranken setzen im Bemühen, nun das Ganze der Welt, kurzum Alles erkennen zu wollen. Und innerhalb dieser – objektiven wie subjektiven – Grenzen, auch um sie zu erkennen, fordert nun Kant die bedingungslose Freiheit im Denken; das heißt, sich frei zu machen von der Leitung und vom Erkenntnisinteresse anderer – und dass, wenn das nicht gelänge, der Denkende immer weiter im Status der Unmündigkeit operieren würde. Diese Unmündigkeit wäre dann allerdings keine bloß moralisch lässliche Sünde, sondern ein selbstverschuldeter Mangel an Urteilskraft.
Auch das ist kein bloß individuelles Problem: Jedes Denken für und in weisungsgebundenen oder weisungsgewohnten Gemeinschaften wird durch ein Unmündigkeitsdefizit geprägt (deren gemeinschaftsstiftende Maxime ist unter anderem: Das-musst-du-politisch-sehen).
II. „Selberdenken“ vs. „Nachdenken“ und Nachreden
Wie wäre dem zu begegnen? Kant sagt, es bliebe nur Eines: Selberdenken! Mut zu haben zum Selberdenken. Zur Definition des Selberdenkers gehört, dass dieser anders denkt, „als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet“.
Durch Kants intellektuelle Praxis bemerken wir: Aufklärung ist vorrangig Selbsterziehung und Selbstkritik; nur wir selbst können uns aus einer Unmündigkeit befreien, die ganz und gar nicht natürlich ist, auch wenn sie uns längst sozial zur zweiten Natur geworden sein sollte. Dass wir die Trägheit der Unmündigkeit gar nicht unterschätzen dürfen, war in der geistigen Umwelt Kants durchaus ein Problem. Von Lichtenberg ist die Wahrnehmung überliefert „Wenn er seinen Verstand gebrauchen sollte, so war es ihm, als wenn jemand, der beständig seine rechte Hand gebraucht hat, etwas mit der linken tun soll.“
Also Selberdenken. Was bedeutet das? Ist nicht jedes Denken Selberdenken? Zumal wenn man zum Beispiel selber viel liest? Aber es gibt ein Problem dabei; darauf hatten Kantianer der strikten Observanz aufmerksam gemacht: „Lesen ist immer bloß Surrogat des eigenen Denkens. Man läßt dabei seine Gedanken von einem andern am Gängelband führen.“
Hier wird dem Selberdenken zugemutet, eine Differenz in der Vernunft zu erkennen. Es sollte die akkumulierende Potenz im Denken (eben lesen) und die ihr zugrunde liegende autopoietischen Dimension zu unterscheiden lernen. Gerade das hatte eben Kant von seinen Studenten verlangt: Wenn ihr Philosophen werden wollt, dann dürft ihr nicht nur das Wissen der Philosophen gewissermaßen „auswendig“ lernen, sondern ihr müsst lernen, wie das Wissen der Philosophen zustande kommt, wie es logisch und sprachlich Gestalt und Form annimmt. Die jungen Leute sollen also nicht „bloß“ „Gedanken, sondern denken lernen“, kurzum, es gelte fortan, nicht zuerst „Philosophie zu lernen“, sondern es kommt darauf an „jetzt philosophiren zu lernen“.
Der aufs „Pauken“ (also die Buchstabengelehrsamkeit) dressierte akademische Alltag mit alltäglicher Denkroutine (von Professoren wie Studenten) sollte überwunden werden – damit auch Denkfaulheit und die Bequemlichkeit, sich bloß auf akademische und historische Autoritäten zu berufen. Bei Disputationen sollten fortan eher Begriffe gelten, nicht zuerst Gefühle, nicht vertraute Vorlieben oder gerade aktuelle Meinungen, nicht immer wieder grassierende Sprachmoden und gruppenspezifische Vorurteile.
Genau diese „Dressur“ des Geistes sollten Selberdenker künftig vermeiden. Aber wie? Es bleibt dem Suchenden nur eines, nämlich: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Denn „das Selbstgedachte versteht man viel gründlicher als das Erlernte“.
Was hätte man damit aber über das Kognitive hinaus gewonnen? Kant sagt es: Man bemerkt und überwindet so seine Unmündigkeit, und zwar eine höchst selbstverschuldete Unmündigkeit. Sie zu überwinden ist für Kant das Entscheidende am Aufgeklärt-sein – nicht das bloß begriffliche Resultat.
„Selberdenken“ ist eine vielschichtige ganzheitliche Aktion, Kant begreift sie nahezu als „Selbstthun“. Der Selberdenker operiert mit der performativen Kraft des Wortes (Logos). Er begreift sich als Sich-selbst-Bestimmender. „Selberdenken“ ist so zu verstehen als Thathandlung (Fichte). Diese Freiheit, zu denken, was man will, und zu sagen, was man denkt, wird einem nicht „von oben“ gewährt, sondern ist als das eingeborene Recht jedes Menschen zu begreifen und zu pflegen. Es jemanden verwehren zu sagen, was er denkt, ist seit alters her Signum der Fremdbestimmung, des Untertanen, des Sklaven.
Dieses Selberdenken also erst eröffnet die Perspektive der Aufklärung: „Selbstdenken heißt den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen.“ Also nur, wenn man sich „auf den Verstand“ stellt, und nicht nur aufs Gefühl, nicht nur auf eine exzentrische Meinung oder auf das, „was alle meinen“, dann erst wäre eine neue Denk-Kultur des Prüfens, der Skepsis, der Infragstellung und der Wahrheit, also Aufgeklärt-Sein möglich.
Das Selberdenken ist allerdings nicht zu verstehen als Alleine-Denken; vielmehr verhilft es dem Einzelnen zu einer „allgemeinen Menschenvernunft“, hat also intersubjektiven, sozialen Anspruch. Oder, um es nochmal mit Goethe zu sagen: „Und was der ganzen Menschheit zugetheilt [...], / Will ich in meinem innern Selbst genießen, [...] Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern.“
Dieser Rückbezug „auf sich selbst“, auf den (eigenen) Verstand ist also nicht zu verstehen als ein asozialer, privatistischer Schritt weg aus der Gesellschaft, hin zu persönlichem Mutwillen und Egozentrik. Sondern es ist umgekehrt gerade die zentrale Orientierung eben auf den Verstand ein Schritt hin zu unserem einzigen Vermögen, uns in Natur, Gesellschaft und am Menschen orientieren zu können. Das wird prominent noch in Hegels Rechtsphilosophie verteidigt, wenn vom „Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit“ gesagt wird, das „daß Ich als allgemeine Person aufgefasst werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usw. ist.“
In seinem Alterswerk „Streit der Fakultäten“ bezeichnet Kant dieses Selberdenken ganz prominent als den von verschiedenen Seiten her „verschrieenen Freiheitsgeist der Vernunft“.
Dazu gehört auch, dass im Selberdenken – anders als bei gewöhnlichen Bücherphilosophen (Schopenhauer) – gerade Paradoxien als sozusagen Material zum Denken bevorzugt werden.
Das Selberdenken ist in gewisser Hinsicht ja selber – wie auch die Freiheit – etwas Paradoxes, es verlangt aus Freiheit eine Abkehr aus jeglicher Gemeinschaft – hinein in den „Antagonism der ungeselligen Geselligkeit“, und ist also ein interessanter Schritt hin zum Rätsel der Gesellschaft (Max Adler).
III. Vormundschaft als Gefahr beim Selberdenken
Aber: Um das „Joch der Unmündigkeit“, um, wie Kant sagt, unsere „beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit“ wirklich abwerfen zu können, scheint neben der Arbeit an sich selber (eben Mut zu haben, selber zu denken) noch ein weiterer Schritt nötig zu werden. Was damit gemeint sein könnte, darauf verwies einer der Freunde aus Kants Tischgesellschaft. Es war Kants alter Hausfreund Johann Georg Hamann, der hier ein neues Stichwort in die Königsberger Diskussion einbrachte.
Hamann verlagert das Problem sozusagen wieder in den „kommunikativen Raum“. Und er bestimmte dann das, was er „wahre Aufklärung“ nennt, neu: Er sagt, dass die im „Ausgange des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft bestehe“.
Damit bewegt man sich hier wieder inmitten unserer heutigen alltäglichen Problemzonen, wenn man bemerkt, wie schnell sich Vormundschaften bilden, wie viele allzu bereit sind, sich mit anderen zu „in sich abgeschlossenen Netzwerken“ zusammenzuschließen. In der Sprache von heute heißt das: Alles „Private“ – also ein naturwüchsig Individuelles – sei eben sofort „Politisch“ – und das wohl in dem Maße, dass man anderen nachzufolgen hätte, sich in deren Diskurse einfügt und deren neue Zusammenhänge mitträgt, sich also deren Dominanz als Vormundschaftlichkeit zu eigen macht.
Und in der Demontage dieser doppelten Verschränkung des Massenbewusstseins – das Unmündige als Vormund – sieht auch Hamann den Ansatz für eine wirklich aufklärerische Initiative: „Denn hier liegt eben der Knoten der ganzen politischen Aufgabe.“
Der intellektuelle Anspruch auf Denkfreiheit, um die man sich als selbstbestimmter Einzelner gefällig immer zu kümmern hat, ist für Hamann natürlich aller Ehren wert, da ist er mit Kant d'accord. Aber Hamann bleibt gegenüber dem vielfach fremdbestimmenden Alltag skeptisch, auch seinerzeit, gerade gegenüber modernen Obrigkeiten, denn: Was hilft mir daheim, zu Hause, das [offiziell verbürgte] „Feyerkleid der Freyheit, wenn ich beruflich [d.i. auf der Bühne, Katheder, Redaktion oder Kanzel alltäglich von Vormundschaft geschurigelt] im Sklavenkittel sitze?“ Der Königsberger Aufklärungsdisput im Hause Kant kalkuliert also eine Wahlverwandtschaft von Unmündigkeit und Vormundschaft ein.
Kant versucht seine Unmündigkeits-These mit der Hamanns zu verbinden. Er macht drei Modalitäten im Geflecht von Unmündigkeit und Vormundschaft namhaft:
• „Unmündigkeit unter Vormundschaft der Gelehrten
• Unmündigkeit unter Vormundschaft der Regenten
• Unmündigkeit unter Vormundschaft des Geschlechts.“
Die Universität als „Pflanzschule“ für mündige Bürger
Wenn Vormundschaft und Unmündigkeit in der allgemeinen Kultur einer Gesellschaft sich Platz schaffen sollten, dann würde bald das Selberdenken unter den Verdacht der Unvernunft und Verantwortungslosigkeit kommen. Der instrumentalistische vormundschaftliche Imperativ kann dann auch in einem modernen, moderaten Modus erscheinen, heute beispielsweise als „Folgt den Wissenschaften!“. Aber sie und Spinozas Gott haben als ein Gemeinsames eben, dass sie nicht denken. Das allein obliegt dem Menschen – als erster Aufklärer Europas hat Spinoza die Aufklärungsperspektive bestimmt – „allein der Mensch denkt“.
Kants Aufklärungsbemühungen erreichen als ihren Kern natürlich auch die Idee der Universität. Diese ist als Mittelpunkt der geistigen Freiheit einer Nation zu organisieren, als – wie ein Königsberger Repräsentant des „Vormärz“ schrieb, „die Pflanzschule für den mündig gewordenen, für den freien Bürger im Staat und in der Kirche“.
Eine der großen geistigen wie institutionellen Leistungen der Königsberger Aufklärer war es, die Universität in republikanischer Form neu gedacht zu haben – mit der damit neu verbundenen Freistellung der Philosophischen Fakultät als autonomer Kritikerin, derzufolge sie „in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurtheilen die Freiheit habe“.
Damit war verbunden, dass man sich vom sozusagen absoluten Vormund befreien kann. Kant skizziert ihn als einen, der noch sagen konnte und durfte, „was ein Freistaat [= Republik] nicht wagen darf: nämlich ,Räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht'“. Im Freistaat schweigt dieser Vormund, aber damit verschwindet das Institut der Vormundschaft nicht schon. Es demokratisiert sich sozusagen – und Vormundschaft wird divers. Die obrigkeitliche Vormundschaft verliert ihre Macht, sie verwandelt sich, sie wird nachbarschaftlich und kollegial. Gerade dieser Umstand zeigt an, wie nötig Aufklärung immer bleiben wird. Gegen sie werden immer wieder Vorwürfe, Einsprüche und auch Spott zu erwarten sein. Zumal sie politischen Gemengelagen häufig als Donquichotterie erscheint ...
Und Kant hat für den Fortgang von Aufklärungsbemühungen nur eine einzige Befürchtung: „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird.“
• Prof. Dr. Steffen Dietzsch war unter anderem von 1991 bis 1993 Mitarbeiter am Deutsche-Forschungsgemeinschaft (DFG)-Projekt „Kants Amtstätigkeit“ der Philipps-Universität Marburg und danach bis 2002 am DFG-Projekt „Philosophie und Philosophische Fakultät zu Königsberg 1770–1870“ am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Schriften gehören unter anderem „Immanuel Kant. Eine Biographie“ (Reclam 2003) und „Denkfreiheit. Über Deutsche und von Deutschem“ (Universitätsverlag Leipzig 2016).
Der Text ist die leicht gekürzte Rede des Autoren anlässlich einer Veranstaltung der Stiftung Königsberg im Herbst 2023 in der Parlamentarischen Gesellschaft zum Abschluss der Kant-Dekade.
• Hinweis: Dieser Beitrag erschien in der Beilage „Weltbürger aus Königsberg“ in PAZ 4/2024. Weitere Texte daraus sind:
René Nehring: Ein Weltbürger und seine Heimat
Warum Kants Werke zwar von globaler Bedeutung sind, jedoch nicht ohne des Philosophen Heimatstadt Königsberg und das sie umgebende Ostpreußen gedacht werden können
Christean Wagner: Kants Bedeutung für die Politik
Der Königsberger Philosoph gilt als einer der wichtigsten Denker der Aufklärung. Seine Schriften enthalten jedoch keineswegs nur Impulse für den akademischen Raum, sondern gerade auch ganz konkrete Anregungen für das Handeln politisch Verantwortlicher
Im Gespräch mit Joachim Mähnert: „Eine Anregung zum Selber-Denken“
Über das reichhaltige Veranstaltungsprogramm zum Kant-Jubiläum im Ostpreußischen Landesmuseum und andernorts
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In Ausgabe 16/2024 erschien zudem zur Aktualität Kants: